Die irren Herrscher von Darmstadt (eine polemische Übersicht)

Manchmal ist es bemerkenswert, über welche Kleinigkeiten man sich immer wieder ärgern kann. Das harmlose Wörtchen „Zeithintergrund“ beispielsweise. Man müsse den Zeithintergrund beachten, das ist das immer wieder gebrachte Totschlagargument, wenn man auf Unmenschlichkeiten und Verbrechen von historischen Persönlichkeiten hinweist, auch dann wenn sich die Historikergemeinde dazu entschlossen hat, dass das „große Persönlichkeiten“ sind. Antisemitische Predigten Martin Luthers oder sein Aufruf Hexen zu verbrennen? „Das muss man vor dem Zeithintergrund sehen“. Das Blutgericht von Verden, bei dem Karl der Große der Überlieferung nach 4.500 Sachsen abschlachten ließ? Auch wenn die überlieferte Opferzahl umstritten ist (einige Historiker gehen von etwa einem Zehntel dieser Zahl aus), es war trotzdem Massenmord! Gleichwohl wird Karl der Große in modernen Geschichtsdokumentationen als vorbildlicher Herrscher dargestellt, der ein Weltreich schuf, das wahlweise – je nach politischer Botschaft – entweder die Wurzel Deutschlands oder Europas war.

Obwohl wir in unserer heutigen Gesellschaft solch irrationale Auswüchse brutaler Gewalt zutiefst ablehnen, hat man den Eindruck, als rufe gerade diese unmenschliche Skrupellosigkeit gegenüber seinen Feinden eine gewisse Faszination hervor, so als wären es die Kanten und Risse von dem Idealbild eines „guten Herrschers“, die die Person erst „echt“ und respektabel im Auge des Betrachters machen. Das kommt daher, dass das meiste, was wir über historische Persönlichkeiten erzählt bekommen, nicht Geschichte ist, sondern Geschichten.

Die rohen Fakten sind spärlich und meist langweilig. Was Historiker machen, ist diese Fakten zu einer plausiblen Geschichte zu verknüpfen, die gut erprobten Dramaturgien folgt. Da spielt dann auch jede historische Figur ihre in die Dramaturgie eingebette Rolle und der Einfachheit halber teilt man ihnen meist die Rolle zu, die sie schon seit Jahrhunderten spielen. So ist Nero bis heute in nahezu jeder Darstellung der theaterbesessene, leierspielende Irre, obwohl man längst weiß, dass dieses Bild auf Propaganda beruht, die den Dynastiewechsel nach seinem Tod rechtfertigen sollte. Ähnliches geschah mit Richard III., dem buckligen Schurken aus dem gleichnamigen Shakespeare-Stück, auch hier geht das auf Propaganda zurück, die einen Dynastiewechsel rechtfertigen sollte.

Genau umgekehrt erging es seinem Namensvetter Richard I., besser bekannt als Richard Löwenherz. Gerade in England ist seine Verehrung ungebrochen, obwohl er vermutlich nicht mal Englisch sprach und während seines ganzen Lebens insgesamt keine 6 Monate auf der Insel verbrachte. Statt als großen Militärstrategen und Idealbild des mittelalterlichen Königs könnte man ihn aber auch als Massenmörder von Akkon stilisieren, wo auf seinen Befehl hin innerhalb von wenigen Tagen etwa 2.700 Gefangene, Männer, Frauen und Kinder, abgeschlachtet wurden, nur weil sie für ihn bei seinem weiteren Feldzug ein Klotz am Bein waren. Damit dürfte er allein mit dieser einen Tat schon alle Todesopfer unter Nero und Richard III. zusammen bei Weitem übertreffen. Die einzige negative Darstellung Richard Löwenherz außerhalb des arabischen Raums ist meines Wissens aber ausgerechnet nur in der sehr esoterischen Robin Hood-Serie „Robin of Sherwood“ aus den 1980ern zu finden (wer sich daran erinnert: das war die Serie mit dem langhaarigen Robin Hood, der aus unerfindlichen Gründen irgendwoher Haarspray gehabt haben muss).

Ich werde daher etwas grummelig, wenn mir jemand mit der Entschuldigung „Zeithintergrund“ kommt. Oder damit, dass Geschichte nicht moralisierend sein darf, sondern auf Fakten beruhen muss. Denn das ist die Lebenslüge der Historiker. Sie mögen näher an der Wahrheit sein als Mythen und Märchen, aber Historiker sind trotzdem Geschichtenerzähler. Daran ist per se nichts Schlechtes, aber man muss sich dessen bewusst sein. Fakten werden nach den eigenen Vorstellungen und den eigenen Erklärungsmodellen bzw. den an Universitäten gelehrten Erklärungsmodellen sortiert und verbunden. Diese folgen einer Philosophie. So ist es zum Beispiel eine Philosophie der Historiker, dass historische Figuren immer aus politischen Motiven heraus gehandelt haben, ganz egal, ob sie Ehen arrangiert oder Kriege geführt haben. Die Möglichkeit, dass diese Leute manchmal auch einfach nur irre waren, wird normalerweise nicht in Erwägung gezogen – außer bei Nero natürlich. Man folgt dabei Erzähltraditionen, die zum Teil Jahrhunderte alt sind, und versucht gleichzeitig Fetzen an Informationen in einen dem Weltbild des Zuhörers entsprechenden plausiblen Zusammenhang zu bringen. Man geht dabei also nicht anders vor als Märchenerzähler. Nur das Publikum ist ein anderes.

Damit komme ich zum Darmstadtbezug. Der Grund, warum ich das Thema angerissen habe, ist nicht etwa, weil es ähnliche Rechtfertigungsmethoden bei der Frage, ob die Hindenburgstraße umbenannt werden soll oder nicht, gibt, sondern weil die Darmstädter Herrscher, also die Großherzöge und Landgrafen seit Georg I., ähnlich verklärt wurden. Wie ich in meinem Beitrag zu den Hexenverfolgungen 1582 schon einmal erwähnt hatte, rechtfertigte Manfred Knodt Georgs Hexenverfolgungen mit den Worten:

Wir stehen nicht an, derartige Verhaltensweisen zu mißbilligen, doch sollten wir berücksichtigen, daß die weltlich und geistlich Oberen als Kinder ihrer Zeit durchaus guten Glaubens waren und meinten, so verfahren zu müssen.“

Es ist eine Aussage, die nicht zu akzeptieren ist. Sie ist historisch falsch und entschuldigt die Verbrechen eines Herrschers aus einer plumpen Erzähltradition heraus. Ich stelle bei so was gerne die Frage, wie lange es wohl dauern mag, bis man mit ähnlichen Argumenten die Verbrechen der Nazis rechtfertigt. Wieviel Zeit benötigt es, bis ein Verbrechen Zeithintergrund wird und damit aus politischer Plausibilität getan wurde und nicht weil bei den Leuten ein paar Schräubchen zu viel locker waren?

Und deswegen möchte ich eine kleine Auflistung der Darmstädter Herrscher hier präsentieren, die etwas anders ist als jene, die man im Buchhandel käuflich erwerben kann. Sie ist einseitig, unausgewogen und polemisch. Ich habe nicht vor, eine ausgewogene Biographie über irgendeinen Herrscher zu schreiben. Es soll gerade in der Einseitigkeit aber eben auch zeigen, wie leicht man die Geschichte anders erzählen könnte, wenn man andere Dinge in den Vordergrund rückt, als üblicherweise getan wird.

Da wäre zunächst Georg I. Bei ihm stehen natürlich die Hexenverfolgungen ganz oben auf der Liste. Sie erwuchsen aus einem religiösen Fanatismus, vielleicht psychologisch verstärkt durch den frühen Verlust seiner Mutter und die dadurch fehlende weibliche Bezugsperson. Georg hielt Frauen von Natur aus für blöd. Außerdem litt er offenbar an einem starken Minderwertigkeitskomplex, weil er im Vergleich zu seinen drei älteren Brüdern mit Hessen-Darmstadt den kleinsten Teil des Landes erhielt. Er fühlte sich vom Schicksal betrogen und fand Trost in der Bibel, besonders im Buch Hiob.

Überall sah Georg den Satan „ausgelassen wüten“ und glaubte sich von ihm versucht, um seinen festen Glauben zu prüfen. So erklärt sich, dass er – entgegen seiner drei Brüder – fest von der Existenz einer Hexensekte überzeugt war, deren Existenz direkt mit dem Wirken des Teufels in Verbindung gebracht wurde. Zwischen 1582 und 1590 fallen seiner Wahnvorstellung in Darmstadt mindestens 37 Menschen zum Opfer. Eine Hinrichtungswelle fällt auffällig mit dem Tod Georgs etwa zweijährigen Tochter zusammen, eine weitere mit einem Schlaganfall Georgs. Vielleicht veranlasste ihn das, noch härter gegen die Hexen vorzugehen, so als glaubte er, diese Schicksalsschläge zeugten von der stärker werdenden Macht der Hexen.

Auch sonst war er kein netter Mensch. Er war ein Choleriker, Kontrollfreak und Besserwisser. Dass er den Frankensteinern einmal auf eine berechtigte Beschwerde offiziell erwidern ließ, sie können sich damit den Hintern abwischen, mag man noch mit Humor nehmen. Weil er aber den Lehrern seiner Kinder nicht traute, wohnte er deren Unterricht oft stundenlang bei. Und wehe der Lehrer erklärte mal etwas, was der Meinung Georgs nach falsch war, da bekam er dessen ganzen Zorn zu spüren. Auch verprügelte er seine Kinder, aber das ist ja … nunja, Zeithintergrund. Auch andere Leute schlug er gerne mal mit seinem Stock.

Außerdem hatte er verschiedene Verhaltensauffälligkeiten. Bereits um 20.00 Uhr legte er sich schlafen, stand dafür um Mitternacht wieder auf, lief nervös in seinem Zimmer auf und ab und überlegte sich, was er am nächsten Tag alles tun müsse, also so Dinge wie Hexen verbrennen und so. Um 3.00 Uhr legte er sich noch einmal für drei Stunden hin.

Die Tischordnung bei Hofe hatte regelrecht autistische Züge. Jede Kleinigkeit war geregelt, einschließlich der Anzahl an Personen, die an einem Tisch zu sitzen hatten (8, nicht 7, nicht 9, nein, 8!). Seinen Untertanen verbot der Landgraf alles, was irgendwie nach Spaß aussah: volkstümliche Feierlichkeiten zu Fastnacht, Walpurgis und Pfingsten. Ebenso Sonntagstänze, vor allem bei Nacht. Zu Hochzeiten durfte zwar getanzt werden, allerdings nur „ziemlich“ und natürlich auch nicht bei Nacht. Außerdem war ausdrücklich verboten, sich beim Tanzen „abzustoßen“ oder gar den Partner/die Partnerin „herumzuwerfen“. Die Einhaltung dieser Verhaltensregeln wurde streng kontrolliert. Auf allen Hochzeiten erschienen landgräfliche Beamte (die natürlich verköstigt werden mussten) und überprüften, dass niemand unzüchtig tanzte und bei Anbruch der Dunkelheit Schluss war.

Georg I. zu Ehren ist bei uns eine Straße benannt.

Georgs Sohn und Nachfolger Ludwig V. ließ niemanden mehr wegen Hexerei verbrennen, wohl aber wegen Falschmünzerei. Auch Vergewaltigungsopfer wurden unter seiner Herrschaft hingerichtet. In vielen Dingen war Ludwig seinem Vater sehr ähnlich. Er war mindestens genauso pedantisch und wollte seine Untertanen auch in deren Alltag bis ins Detail kontrollieren. So waren seine Vorschriften, wie die Hochzeitsfeiern seiner Untertaten abzulaufen hatten, noch genauer als die seines Vater. Er begrenzte die Anzahl an Gästen und Mahlzeiten, legte fest, was geschenkt wurde („Hemden und Schnupftücher“) und stellte es unter Strafe, wenn man zu einer Feier nicht erschien, obwohl man eingeladen war. Außerdem verbot er – warum auch immer – Kinder auf solchen Veranstaltungen. Wie auch sein Vater ließ er all das von Aufpassern kontrollieren, die jeden Verstoß meldeten. Ihr meint, die Stasi war schlimm? Dann seid froh, dass ihr nicht unter dem einen der beiden Herrscher, nach dem das LGG benannt ist, gelebt habt.

Der andere Namenspatron der Schule ist Georg II., ein fürchterlicher Antisemit und Kaiserbückling. Eine seiner ersten Amtshandlungen war eine Anweisung an die Juden, umgehend das Land zu verlassen. Weil er aber auf das Erbe seines verstorbenen Onkels, die Landgrafschaft Hessen-Marburg, scharf war und dafür die Unterstützung des Kaisers brauchte und dessen Reichskammergericht diese Anweisung für rechtswidrig erklärt hatte, setzte er die Vertreibung nie mit Gewalt durch. Den Juden ging es deswegen nicht besser: wo Georg nur konnte, machte er ihnen das Leben schwer. Obwohl er ein Herrscher war, verhielt er sich damit nach dem Klischee des Untertanen: nach oben buckeln, nach unten treten.

Der sonst für die Stadtgeschichte völlig unbedeutende Ludwig VI., dessen größter Verdienst es ist, den ältesten bekannten Plan der Stadt gezeichnet zu haben, war ein fürchterliches Müttersöhnchen, dem die Rechte der Stadt schnurzpiepscheißegal waren, nur weil er sich nicht traute, gegenüber seiner Mutter das Maul aufzumachen und ihr klarzumachen, dass es auch für sie Gesetze gibt.

Ludwig VII. hatte das seltene Glück, dass er nur wenige Monate nach seinem Regierungsantritt verstarb und so kein größeres Unheil anrichten konnte. Sein Nachfolger Landgraf Ernst Ludwig war ein größenwahnsinniger Provinzherrscher, der obwohl ihm alle sagten, dass dafür kein Geld da war, einen Prunkbau nach dem anderen aus dem Boden stampfte. Obwohl einige seiner Bauten, wie die Orangerie und das Neuschloss, heute noch als historisch bedeutende Gebäude angesehen werden können, war alles, was er anpackte, ein grandioser Reinfall. Praktisch keines seiner größenwahnsinnigen Projekte wurde je fertiggestellt. Vieles, wie die Idee den Darmbach durch einen Kanal mit dem Rhein zu verbinden, existierte nur auf dem Papier. Trotzdem ließ er sich zu seinem 50. Regierungsjubiläum mit Kaiser Augustus vergleichen und das ausgerechnet illustriert mit einer Zeichnung des Schlosses, wie es denn ausgesehen hätte, wäre es jemals fertiggestellt worden. Trotzdem die beiden Flügel des Schlosses noch im Rohbau waren, selbst für Fensterglas war kein Geld mehr, verglich er seinen „Ausbau“ Darmstadts, der sich faktisch auf die Neue Vorstadt zwischen Schloss und Luisenplatz beschränkte, mit den Ausbauten Roms unter Augustus.

Darüber hinaus war Ernst Ludwig ein Rassist. Auf die Juden hatte er es zwar ausnahmsweise nicht abgesehen, aber auf „Zigeuner“. Roma, Jenische, Fahrendes Volk, etc. wurden von ihm vogelfrei erklärt. Er setzte eine üppige Belohnung aus für jeden „Zigeuner“, der gefangen oder auch einfach erschossen wurde. Den gesamten Besitz des „Zigeuners“ durfte man dann behalten. Man konnte also durch den Wald gehen, sich an ein Zigeunerlager anschleichen, alle niedermetzeln, sich sämtliche Wertsachen aneignen und dann auch noch eine stattliche Belohnung beim Landgrafen abholen.

Nach Landgraf Ernst Ludwig sind bei uns sowohl ein Platz als auch eine Straße benannt. Eins hat wohl nicht gelangt.

Ludwig VIII. ist als „Jagdlandgraf“ in die Geschichte eingegangen. Von seinem Hofmaler Zacharias Sonntag ließ er ein Gemälde anfertigen, das den Landgrafen in seiner Jagdkalesche zeigt, die von sechs Hirschen gezogen wird. Das Ganze hat ein bisschen was von Santa Claus, nur dass dieser Santa Claus keine Geschenke brachte, sondern die Landschaft verwüstete. Fast wie ein fürstlicher Vorbote des Datterichs hatte er ein Talent dafür, Geld auszugeben, das der eigentlich bankrotte Staat Hessen-Darmstadt nicht hatte. Die enge Freundschaft zum Kaiserpaar, besonders zur Kaiserin Maria Theresia, verhinderte die Eintreibung der Schulden, die aufgrund Ludwigs teurer Jagdleidenschaft immer größer wurden.

Ansonsten fiel er durch einen bevölkerungsfernen, absolutistischen Regierungsstil auf, der seinen Gipfel in der absurden Kaffee-Verordnung von 1766 erreichte. Demnach war es bei Androhung von zwei Wochen Haft verboten Kaffee zu trinken (ersatzweise konnte man auch 10 Reichstaler zahlen, für einfache Leute war das damals aber viel Geld). Ausgenommen von dem Verbot waren jedoch Bürger, die in „Ansehen und Vermögen“ standen. Die Oberschicht durfte also Kaffee trinken, nur der „Pöbel“ sollte es sein lassen.

Nachdem sein Vater die Landgrafschaft bereits finanziell ruiniert hatte, tat Ludwigs Jagdleidenschaft dasselbe nun auch mit den Ressourcen. Die Felder wurden vom Wild verwüstet und wer sich dagegen wehrte, machte sich des Wildfrevels schuldig und wurde hart bestraft. Die Engländer haben sich für solche Leute einen Robin Hood erdacht, Darmstadt dagegen verehrt den Landgrafen, den damals kaum ein Untertan leiden konnte, weil er so ein hübsches Jagdschloss in Kranichstein gebaut hat. In Darmstadt würde man wohl auch den Sheriff von Nottingham verehren, weil er ein so schönes Häuschen hinterlassen hat.

Landgraf Ludwig IX. war der Ober-Irre der Herrscherfamilie. In einer triefenden Ignoranz der Fakten wurde in der Geschichtsschreibung immer wieder verschwiegen, dass der Mann offenbar unter Wahnvorstellungen litt. Sein ganzes Leben glaubte er, von den Geistern Verstorbener heimgesucht zu werden und noch zu Erbprinzzeiten hatte er eine regelrechte Geisterjagd organisiert, bis er merkte, dass die spukhaften Erscheinungen von einigen seiner Untertanen in betrügerischer Absicht inszeniert worden waren. Seither war er zwar vorsichtiger, wenn jemand behauptete, er könnte mit Geistern kommunizieren, das prinzipielle Interesse an dem Thema sowie die Überzeugung, dass ihm einst in Prenzlau bei einer spiritistischen Sitzung vier Geister „aufgebannt“ worden waren, gab er Zeit seines Lebens niemals auf.

Mehr noch als Geister faszinierten ihn Soldaten. Er schmiss sinnlos Geld für riesige Exerzierhallen heraus, stampfte in Pirmasens aus einem kleinen Dörfchen eine gewaltige Garnisonsstadt aus dem Boden und baute eine Armee auf, die für die kleine Landgrafschaft viel zu groß war. Er wollte damit keinen großen, europaweiten Krieg führen, er wollte nur mit den Soldaten spielen.

Ludwig behauptete von sich, er hätte exakt 92.176 Märsche geschrieben. Tatsächlich waren es wohl höchstens 100. Und die Wahl zum Darmstädter Oberbürgermeister ließ er schon mal auswürfeln.

Bei Großherzog Ludwig I., dem Säulenheiligen Darmstadts, wird häufig positiv erwähnt, dass er eine landständische Verfassung eingeführt hat. Genau dafür wurde auch das Ludwigsmonument, also der Lange Lui, errichtet. Doch es ist eine Lüge, wenn man sagt, das wäre auf Veranlassung oder gar Willen des alten Lui geschehen. Hauptgrund für die Einführung der Verfassung war, dass der Großherzog das nach Artikel 13 der Deutschen Bundesakte schlicht tun musste. Hätte er sich der Unterzeichnung verweigert, wäre er nicht in den Besitz der reichen Provinz Rheinhessen gekommen. Dass er mit dieser Regelung glücklich war, kann man ausschließen, denn erst 1806 hatte er die Landstände abgeschafft. „In mir ist alles Recht und der ganze Staat“, schrieb er einmal. Seine Vorstellung von Herrschaft war also noch durch und durch absolutistisch. Lediglich politische Umstände, an denen er nichts ändern konnte, zwangen ihn zur konstitutionellen Monarchie.

Er verzögerte die Einführung der Verfassung solange es ging und was dann dabei herauskam, war ein Machwerk, in dem der Großherzog in Artikel 4, Absatz 2 ausdrücklich als heilig und unverletzlich bezeichnet wird. Heilig! Das war zwar nicht die Erhebung zur Gottheit… aber nah dran. Mit Verfassungsstatus.

Ludwig II. war der Großherzog, der in Büchners und Weidigs Hessischen Landboten gemeint ist. Das sollte eigentlich schon genügen, um sich klar zu machen, was für eine Person wir hier vor uns haben: einen Ausbeuter, allerdings einen, der zu blöd dazu war. Sein Versuch gleich zu Beginn der Regierungsübernahme seine Privatschulden dem Land aufzuerlegen, scheiterte am Widerstand des Landtages. Nach dem Hambacher Fest unterließ Ludwig nichts, um die demokratische Bewegung abzuwürgen. Darmstadt hatte unter ihm den Ruf einer „Staatsdienerkolonie“, ein Ort voller „bleierner Langeweile“ und „öden Plätzen“, wo „Demokraten-Fresser“ wohnen.

Während Ludwigs II. Regierungszeit ist auch der Datterich entstanden. Von der so starken Demokratiebewegung dieser Zeit suchen wir darin aber vergeblich eine Spur. In Gestalt von Dummbach finden wir allerdings einen parodistischen Blick auf die durch Zeitungen immer stärker politisierten Bürger. Doch was auffällt ist, dass Dummbach fast ausschließlich über das Ausland spricht, nicht über hessische Politik oder gar über Demokratie. So etwas hätte Niebergall niemals veröffentlichen dürfen (abgesehen davon, dass Niebergall wohl selbst kein Freund der Demokratie war).

Ludwig III., von Bismarck als „der große Dicke“ bezeichnet, entwickelte sich nach anfänglichen demokratischen Reformen zu einem Bollwerk der Reaktion. Am Ende seiner Regierung war das Großherzogtum noch reaktionärer geworden als unter Ludwig I. und Ludwig II. Das will was heißen! Vor allem das nach preußischem Vorbild eingeführte Dreiklassenwahlrecht schränkte den Einfluss des Volkes massiv ein.

Ludwig IV. war so unbedeutend, dass man ihm außer seiner schwer reaktionären Grundhaltung so direkt nichts vorwerfen kann. Das Deutsche Reich war gegründet, Berlin hatte mittlerweile das Sagen in den wichtigen Dingen. Und wer keine Macht hat, kann eben auch keinen großen Schaden anrichten.

Für Großherzog Ernst Ludwig gilt ähnliches. Unangenehm fällt allerdings auf, dass er sich 1918 strikt weigerte abzudanken. Auch war die Mathildenhöhe und die Künstlerkolonie eine heute zwar viel beachtete Spielerei des Großherzogs. Dass ihn die verarmten und in Elend lebenden Bürger in der Altstadt aber überhaupt nicht zu interessieren schienen, spricht auch nicht sehr für ihn.

4 Responses to Die irren Herrscher von Darmstadt (eine polemische Übersicht)

  1. Walter Kuhl says:

    „sondern auch eine Art Abschluss für mich, was die Beschäftigung mit der Stadtgeschichte betrifft. Ich bin es aus vielen Gründen leid, und dazu gehören auch die verlogenen Darstellungen der Darmstädter Herrscher, die mir bis hin zu den aktuellsten Arbeiten immer wieder begegnet sind.“

    Das fände ich aber sehr schade. Deine treffenden Zuschreibungen über die Darmstädter Zustände sind eine Sternstunde im trüben Geblubber lokaler Befindlichkeiten.

    Apropos Jugendstilschönling und Keyserlingfreund Ernst-Ludwig. Der war in die Benennung der Hindenburgstraße involviert. Das entsprechende Protokoll der StaVo vom 16.12.1915 sagt:

    „Die Benennung einer Straße zu Ehren des Generalfeldmarschalls von Hindenburg betr., gibt der Oberbürgermeister Kenntnis von dem Ergebnis einer Aussprache mit dem Landesherrn über die erneuerlichen Vorschläge der Stadtverwaltung an Hand der Niederschrift in den Akten. Die Versammlung stimmt einmütig dem Vorschlage des Großherzogs zu, die Straße, die demnächst an dem neuzuerrichtenden Festhaus beginnen und parallel mit der Neckar- und Heidelberger Straße verlaufen wird, als Hindenburgstraße zu benennen.“

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