Die Burg Frankenstein und das Monster

Häufig wird behauptet, Mary Shelleys Frankenstein wäre von der Burgruine Frankenstein bei Darmstadt und dem dort geborenen Alchimisten Johann Konrad Dippel inspiriert. Mit Fakten hat das allerdings deutlich weniger zu tun als mit einem gelungenen Marketing.

Erst ab 1947 wurde eine solche Verbindung hergestellt, zunächst mit der Behauptung, dass Szenen für den klassischen Hollywoodfilm in der Burg gedreht wurden, was nicht stimmt. Ab 1950 finden sich zudem Artikel in US-amerikanischen Zeitungen, in denen behauptet wird, auf der Burg gäbe es das Grabmal eines Frankensteiner Ritters, das diesen zeige, wie er „das Monster“ erschlägt. Das Grabmal, das gemeint ist, befindet sich allerdings nicht auf Burg Frankenstein, sondern in Nieder-Beerbach. Es zeigt Ritter Georg von Frankenstein, der einen Lindwurm tötet, vermutlich eine Anspielung auf den Namensvetter des Ritters, den Heiligen Georg, und die mit ihm assoziierte Drachentöterlegende. Auf Grundlage dieses Grabmals entstand eine regionale Sage vom Kampf des Ritters mit dem Lindwurm, die allerdings keinerlei Ähnlichkeit mit Shelleys Frankenstein hat. Ungeachtet dessen wurde in US-amerikanischen Zeitungen und Buchveröffentlichungen ab den 1950ern behauptet, dass Shelleys Roman von dieser Sage inspiriert wurde.

Amerikanisches Marketing

1952 machte die Burg Frankenstein Schlagzeilen, nachdem der Journalist John A. Keel für eine europaweit ausgestrahlte Radiosendung einen Halloween-Streich auf der Burg organisiert hatte. Als Aufmacher hatte er eine Legende erfunden, nach der alle 100 Jahre ein Monster auf der Burg erscheinen würde. Die Sendung sorgte für enorme Zuhörerreaktionen und wurde bis in die 1970er hinein bei verschiedenen Radiosendern regelmäßig wiederholt.

1960 erfand ein Mitarbeiter der British Overseas Airways Corporation eine stark an die frühen Frankenstein-Filme erinnernde Legende, die sich die Bevölkerung in der Region um Burg Frankenstein erzählen würde. Auch diese Legende war ein PR-Gag, um Flugreisen nach Frankfurt zu promoten. Sie basierte sehr grob auf der Sage vom Ritter Georg, war aber durch typische Elemente der frühen Horrorfilme klar als Produkt des 20. Jahrhunderts erkennbar.

Zwei Jahre später tauchte in einem Zeitungsartikel erstmals der Name Dippel als Inspiration für Mary Shelley auf. Wie auch die Behauptung, dass in der Burg Frankenstein Szenen des Hollywoodfilms gedreht wurden, stammt diese Aussage von einer Person, die nur als „caretaker“ bezeichnet wird. Es ist unklar, wer das war. Vermutet wurde der damalige Bürgermeister von Nieder-Beerbach oder jemand, der im Zusammenhang mit der Burggaststätte stand. Auch der Goethe-Forscher Fritz Ebner könnte einen Einfluss gehabt haben, ist er doch vor den 1990ern der einzige deutschsprachige Autor, der die These vom Einfluss Dippels auf Shelley vertrat. Ein Zeitungsartikel, in dem er diese These darlegt, deutet allerdings darauf hin, dass er nur die Frankenstein-Filme kannte, nicht den Roman. Auch die Biographie Dippels gibt er über weite Strecken falsch wieder.

1975 baute der Historiker Radu Florescu ein ganzes Buch um diese These auf. Dass die Quellen dem widersprachen, erklärte er mit einer Verschwörungstheorie, demnach Shelley ihre eigenen Tagebücher verfälscht haben soll, was aber unbelegt und unplausibel ist. Um eine Neuauflage des Buches zu vermarkten, sorgte Florescus Sohn, der als Produzent für den Fernsehmoderator David Frost arbeitete, 1995 dafür, dass Frost das Zugpferd für eine Dokumentation spielte, die die These bekannter machen sollte. Seither wird sie in steter Regelmäßigkeit sowohl in Fernseh-Dokumentationen als auch in Comics, Filmen, Serien, Romanen und Sachbüchern aufgegriffen.

Entwicklung in Deutschland

In Deutschland war die These lange nicht sehr populär. Erst seit Ende der 1990er änderte sich dies mit einer Reihe von Veröffentlichungen des Journalisten Walter Scheele, der lange Zeit als Touristenführer in der Burg tätig war, sich in dieser Zeit aber den Ruf erarbeitete, absurde Behauptungen zu verbreiten.

Auf Florescus These der verfälschten Tagebücher aufbauend behauptete er, Shelleys „echtes“ Tagebuch entdeckt zu haben, aus dem er eine Passage zitierte, in der Shelley den Besuch der Burg Frankenstein beschreibt. Scheele konnte das Tagebuch allerdings nicht vorlegen. Zudem ist das Zitat in eher holprigem Englisch verfasst und beschreibt eine Situation, die so nicht zutreffend sein kann.

Als zweiten Beleg nannte er einen Brief von Jacob Grimm an Shelleys Stiefmutter, der eine regionale Sage der Burg Frankenstein beschreiben soll und frappierende Ähnlichkeit mit Shelleys Roman hat. Auch diesen Brief konnte er nicht vorlegen. Eine Korrespondenz zwischen den Grimms und Shelleys Stiefmutter ist nicht bekannt. Scheeles Behauptung, sie hätte Grimms Märchen ins Englische übersetzt, stimmt nicht.

Trotz der Fragwürdigkeit seiner Belege verbreiteten sich Scheeles Thesen zunächst so weit, dass sie stellenweise schon als Fakt akzeptiert wurden. Zunehmende Skepsis sorgte jedoch dafür, dass Scheele dazu überging, mit immer abenteuerlicheren Behauptungen noch eine Schippe drauflegen zu wollen. 2017 überspannte er den Bogen schließlich, als er den Frankenstein mit Nazi-UFOs, die dort angeblich entwickelt worden sein sollen, in Verbindung brachte. Aktuell scheint er sich aus dem Themenkomplex zurückgezogen zu haben.

Der Verbreitung der Thesen hat dies allerdings keinen Abbruch getan. Kein Zeitungsartikel und keine Fernseh-Dokumentation über die Hintergründe des Romans kommt um Dippel herum.

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