Stadtentwicklung bis 1900

Darmstadt bis ca. 1250
rot: Lage des ursprünglichen Siedlungsgebiets
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth

Die ersten Häuser des Dorfes Darmundestat standen vermutlich östlich des Schlosses auf der kleinen Anhöhe neben dem Darmstadtium. Angelegt wurde das Dorf entlang einer alten Straße, die von Süden nach Norden verlief und deren südlicher Teil die alte Bergstraße war. Der Verlauf dieser Straße ist im heutigen Stadtbild nicht mehr erkennbar. Sie verlief, von Bessungen kommend, entlang der Karlstraße bis zur Holzstraße und von dort parallel zur Stadtmauer in einem leichten Bogen über heute bebautetes Gebiet bis zu dem Punkt, wo man heute östlich des Darmstadtiums auf die Alexanderstraße kommt. Danach ging der Weg weiter nach Arheilgen.

Eine alternative Hypothese geht davon aus, dass sich das Dorf an einem zentralen Gebäude orientiert hatte, das dort stand, wo heute das Schloss steht. Der heutige Straßenverlauf würde demnach immer noch ungefähr der alten Bergstraße entsprechen. Diese Annahme ist jedoch die deutlich unwahrscheinlichere Variante, denn abgesehen davon, dass die Straße früher keineswegs wie heute (halbwegs) gerade und direkt verlief, sondern in einer Zickzack-Linie an Gebäuden vorbei, was für einen uralten und zudem von den Römern ausgebauten Verkehrsweg sehr ungewöhnlich wäre, würde dies vor allem bedeuten, dass man die Straße, die man sonst bewusst wegen dem schwierigen Gelände etwas höher angelegt hatte, ausgerechnet in Darmstadt durch eine Senke geführt hätte, die bei Regen regelmäßig unter Wasser gestanden hätte. Der Standort des Schlosses macht erst mit der Anlage der Wasserburg im 13. Jahrhundert Sinn.

Siedlungszellen ca. 1250 bis 1330
rot: ursprüngliches Dorf
blau: Adelshöfe der Burgmannen der Wasserburg
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth

Diese Wasserburg war dann auch der Grund für eine erste Erweiterung des Dorfes. Die Burg brauchte mehr als Ackerbauern und so wurden Höfe von Rittern angesiedelt. Diese entstanden südlich der Burg (auf der anderen Seite des Darmbachs) entlang des heutigen Marktplatzes, der da aber noch viel kleiner war. Möglicherweise entstand zu dieser Zeit auch schon die Stadtkirche, damals aber natürlich noch als winzig kleine Kapelle. Urkundlich wird sie jedoch erst mehr als 100 Jahre später erwähnt, so dass dies unsicher ist. Die häufig getroffene Behauptung, dass die Kapelle bereits zur Merowingerzeit (5.-8. Jahrhundert), also bei Ortsgründung, entstanden ist, ist wenig plausibel.

Ab 1330 umzog man das zur Stadt erhobene Darmstadt mit einer Stadtmauer, die bis ins späte 16. Jahrhundert mit der Siedlungsgrenze identisch war. Sie hatte zunächst zwei Tore: das Bessunger Tor im Süden, dort, wo heute die Schulstraße in die Kirchstraße mündet, und das Arheilger Tor, östlich des heutigen Darmstadtiums. Ca. 1450 kam das Neue Tor hinzu, das sich westlich des Schlosses befand. Es war Teil von Umbaumaßnahmen am Schloss, dem auch ein Vorwerk, also eine außerhalb der Stadtmauern angelegte Befestigung, hinzugefügt wurde, das sich etwa bis zum heutigen Staatsarchiv erstreckte. Dieses Gelände war aber eher eine Erweiterung des Schlosses, nicht der Stadt.

Darmstadt nach 1450
rot: bäuerliche Oberstadt
blau: adlige Unterstadt
gelb: Vorwerk (vor allem nach Osten ist unklar, wie weit das Vorwerk reichte, deshalb hier nur angedeutet)
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth

Der Zweck des Neuen Tors ist nicht ganz sicher. Wahrscheinlich diente es der besseren Anbindung des neuen Vorwerks an die Stadt oder aber es sollte den Verkehr von Westen vor dem Vorwerk (und nicht – wie bis dahin wohl üblich – über das Arheilger Tor) direkt zum Marktplatz geleiten.

Was Wohngebäude betrifft, wurde es aber erst Ende des 16. Jahrhunderts nötig, die Stadt auch über die Mauern hinaus zu vergrößern. In dieser Zeit wurde das Schloss noch einmal komplett umgebaut und erhielt nach und nach die heute noch stehenden Renaissance-Bauten im Innenhof. Die Alte Vorstadt entlang der Alexander- und Magdalenenstraße entstand, hauptsächlich für die fürstlichen Beamten, die größeren Wohnraum beanspruchten. Bereits vorher verlegte der Landgraf jedoch die wirtschaftlichen Gebäude vom Schlossgelände dorthin, wobei vor allem die Baumühle zu erwähnen ist, eine Mühle mit zugehörigen Bauten, die für damalige Verhältnisse State of the Art und so bedeutend war, dass ihre mächtigen Schöpfräder im Epitaph der Landgräfin Magdalena verewigt wurden. Zudem ist ein dort erkenntliches Tor vermutlich die einzige bildliche Darstellung des „mittleren Arheilger Tors“, der Eingang zu einer nur wenige Jahre existierenden, provisorischen Vorstadtmauer an der Nordseite des Ballonplatzes, die 1604 samt Tor wieder eingerissen wurde, nachdem die Vorstadtmauer bis zum heutigen Ende der Magdalenenstraße erweitert und mit dem Sporertor abgeschlossen worden war. Danach wurde auch dieser Teil bebaut.

Darmstadt 1687
rot/blau: Altstadt, gelb: Vorhof Schloss
grün: Alte Vorstadt
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth

Die Alte Vorstadt folgte hauptsächlich dem Prinzip eines Reihendorfes. Die Bauplätze waren dabei fest definiert und auch die Bauweise der Höfe war vereinheitlicht, was bedeutet, dass die Häuser größtenteils gleich aussahen und gleich aufgebaut waren. Zentraler Platz war der Ballonplatz, der damals größer war als heute und dem höfischen Ballspiel dienen sollte. Später war an dieser Stelle auch eine Kirche geplant, die die alte Vorstadt in ihrer Struktur gänzlich vom alten Darmstadt getrennt hätte, der 30-jährige Krieg verhinderte jedoch eine Umsetzung dieses Plans. Der Krieg war auch der Grund dafür, dass die Bebauung der Vorstadt nur sehr schleppend voranging. Die Bauplätze in der Magdalenenstraße waren bis 1620 alle vergeben, doch die weitere Bebauung des einstigen landgräflichen Birngartens in der Alexanderstraße zog sich bis 1687.

Zur besseren Anbindung der Vorstadt an den Marktplatz entstand in dieser Zeit auch das Frankfurter Tor, das sich zwischen dem Schloss und dem heutigen Darmstadtium befand. Wann genau, ist unklar. Es könnte bereits Ende des 16. Jahrhunderts von Georg I. angelegt worden sein, vermutlich aber erst einige Jahrzehnte später im Verlauf des weiteren Ausbaus der alten Vorstadt. Die von einigen Autoren vertretene Auffassung, das Frankfurter Tor wäre das ursprüngliche, also älteste Nordtor gewesen, ist unhaltbar. Das Arheilger Tor ergibt nur Sinn, wenn es vor dem Frankfurter Tor existierte. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum man an der Stelle des Arheilger Tors die Mauer hätte durchbrechen sollen, wenn es an der Stelle des Frankfurter Tors bereits einen Durchbruch gab. Es hätte die Stadtbefestigung entscheidend geschwächt und überhaupt keinen praktischen Nutzen gehabt. Das Arheilger Tor macht also nur Sinn, wenn es ursprünglich das alleinige Nordtor war. Außerdem kann man auf einem Kupferstich Wilhelm Dilichs aus dem Jahr 1606 erkennen, dass das Frankfurter Tor damals noch nicht existierte.

Darmstadt Ende des 18. Jahrhunderts
rot/blau: Altstadt, gelb: Plätze und Gebäude vor dem Schloss
grün: Alte Vorstadt, lila: Neue Vorstadt
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth
Anmerkung: bei der Skizze war ich etwas ungenau, das Neue Tor war etwas weiter westlich, zentral auf dem Luisenplatz

Nahezu unmittelbar nach der Vollendung der alten Vorstadt wurde die neue Vorstadt westlich des Schlosses geplant. Zunächst sollte diese eine völlig eigenständige Siedlung werden, nach Westen orientiert (nicht wie Darmstadt nach Norden in Richtung Frankfurt), mit eigenem Markt und – so unglaublich das klingt – Anbindung an den Rhein. Dazu sollte eigens ein Kanal gebaut werden. Ein typisches Bauprojekt von Landgraf Ernst Ludwig: leicht größenwahnsinnig, aber offenbar nicht größenwahnsinnig genug, um nicht bis ins späte 18. Jahrhundert als mögliche Option im Gespräch zu bleiben.

Der Landgraf wollte in dem fast quadratisch angelegten neuen Stadtteil Hugenotten ansiedeln, doch als die Verhandlungen mit diesen scheiterten, musste umgeplant werden und man begann 1698 mit dem Bau einer etwas bescheideneren Variante, die 1727 vollendet und ähnlich wie die Alte Vorstadt erneut hauptsächlich von fürstlichen Beamten bezogen wurde. Die neue Vorstadt reichte noch bis ins 19. Jahrhundert hinein gerade das Stück die obere Rheinstraße zwischen Schloss und Luisenplatz hinauf. Die Rheinstraße war beidseitig bebaut. Die Luisenstraße existierte (wenn auch unter anderem Namen) bereits in dem Bereich zwischen der späteren Schuchard- und der späteren Zeughausstraße. Wohnhäuser standen nur an der Ostseite. Westlich gab es einige wenige fürstliche Gebäude (Kollegienhaus/Kaserne), die neue Vorstadt schloss dann aber an dem Neuen Tor ab, das nicht mit dem gleichnamigen „älteren“ Neuen Tor zu verwechseln ist, das längst nicht mehr existierte. Dieses „neue“ Neue Tor befand sich auf dem heutigen Luisenplatz.

Wohngebiete 1822
rot: Altstadt, gelb: Plätze und Gebäude vor dem Schloss
grün: Alte Vorstadt, lila: Neue Vorstadt
blau: Mollerstadt, orange: Pankratius-Vorstadt und sonstige Wohngebiete
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth

Im 19. Jahrhundert explodierte dann das Wachstum. Die Mollerstadt entstand. 1822 war das Rechteck Rheinstraße, Neckarstraße, Hügelstraße und Wilhelminenstraße vollständig bebaut. Entlang der Rheinstraße reichte die Bebauung teilweise außerdem bis zur heutigen Landgraf-Philipps-Anlage, die Ludwigskirche entstand gerade. Vor der Alten Vorstadt hatte sich derweil in wilder Bebauung die Pankratius-Vorstadt gebildet. Sie reichte entlang dreier Straßenzüge, Pankratiusstraße, Arheilger Straße und Schlossgartenstraße (die damals Schwanengasse hieß), bis zur Fuhrmann- und Gardistenstraße. Es war ein Quartier für arme Leute, das daher auch eher bäuerliches Flair hatte. Schweine liefen frei auf der Gasse herum und so nannte man das Viertel im Volksmund bald Watzeviertel. Vergleichbare Häuser entstanden nun auch entlang der Dieburger und Kranichsteiner Straße. Sie bildeten kein eigenständiges Viertel, sondern wuchsen im Laufe der Zeit mit der Pankratius-Vorstadt zusammen, bis sie zum heutigen Martinsviertel wurden.

Auch östlich der Stadtmauer war die Bebauungsgrenze nun gefallen. Im Süden entlang der alten Landstraße nach Bessungen, die heutige Karlstraße, der Wilhelminenstraße und der Nieder-Ramstädter-Straße wuchs die Stadt bis an die Gemarkungsgrenze zu Bessungen an der Heinrichstraße.

Ab Mitte der 1860er Jahre entstand schließlich das heutige Johannesviertel, zunächst nur als Industriegebiet für die Eisen- und Maschinenindustrie. Ab 1870/71 entstanden dann nach der Planung des Fabrikanten Heinrich Blumenthal Miethäuser. 1888 kam Bessungen zu Darmstadt und vergrößerte die Stadtgrenzen noch einmal enorm.

Wohngebiete ca. 1900
rot: Altstadt, gelb: Plätze und Gebäude vor dem Schloss, grün: Alte Vorstadt, lila: Neue Vorstadt, blau: Mollerstadt, orange: Martinsviertel, weiß: Blumenthal-/Johannesviertel, türkis: sonstige Wohngebiete, schwarz: Bessungen
Hintergrund-Bildquelle: Google Earth

14 Responses to Stadtentwicklung bis 1900

  1. Kristof says:

    Ach, danke für diese Zusammenstellung.

    • Kristof says:

      PS: http://www.darmbach.de/Projekt/historie.htm (siehe „Ein Dorf mit Stadtmauer“). Ich habe jetzt keinen Abgleich gemacht … 🙂

      • Ja, das ist die Echo-Serie, die 2005 zum 675-jährigen Jubiläum erstellt wurde. Die nimmt schon für 900 Siedlungszellen im Unterdorf, eine Kapelle und ein befestigtes Gebäude am Standort des Schlosses an, folgt also der „alternativen Hypothese“, wie ich es genannt habe. Das liegt daran, dass Stadtarchivar Peter Engels dieser Auffassung ist. Das mit den Höfen im Unterdorf ist aber sehr unwahrscheinlich, die Wildhube am Standort des Schlosses Unsinn (hatte ich vor ein paar Wochen mal erklärt, warum). Dass die Bergstraße nicht am Schlossgraben vorbeigezogen sein kann, werde ich, wenn ich die Zeit dazu finde, am Wochenende nochmal genauer erklären.

  2. Wie immer profund und auf den Punkt – vielen Dank dafür!

  3. Pingback: Archäonews 18.07.2012 Potential, Holzschnitzereien und was auf die Ohren | Tribur.de

  4. Toll.
    Und wann wurde eigentlich Merck nach draußen verlagert und ab wann gab es die Knell?

  5. Marc says:

    Laut Merck produzierte man ab 1831 Chlorkalk auf einem Gartengrundstück am Stadtrand und baute seine Produktion dort nach und nach aus. Das war der Mercksplatz, der Ende des 19. Jahrhunderts von der wachsenden Stadt eingeschlossen war.

    Die Firma musste umziehen, als Standorte wurden auch Hamburg und Aschaffenburg diskutiert. Aber es zählten angeblich die eingearbeiteten Mitarbeiter und der Markenname „E. Merck Darmstadt“.

    1901 gab es die Baugenehmigung. Die einzigen, die sich beschwerten seien die Fuhrleute gewesen. Denn die litten unter den – damals schon vorhandenen – Schlaglöchern auf Darmstadts Straßen, als sie die Fabrik vom Mercksplatz nach Arheilgen umzogen.

    http://www.echo-online.de/region/darmstadt/Gefaehrliche-Dinge-passieren-im-Sueden;art1231,2166153

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