Hexenverfolgungen 1582 – Teil 1

Es ist erstaunlich, dass die Hexenverfolgungen in Darmstadt nie auf sonderliches Interesse gestoßen sind, obwohl es doch an sich ein sehr populäres Thema ist. In dem umfangreichen Standardwerk Darmstadts Geschichte – Fürstenresidenz und Bürgerstadt im Wandel der Jahrhunderte nehmen die Darmstädter Hexenhinrichtungen gerade einmal einen einzigen Absatz ein. Zum Vergleich: die Gehaltslisten verschiedener städtischer Ämter werden über mehrere Seiten hinweg detailliert ausgebreitet.

Die stiefmütterliche Behandlung dieser an sich dramatischen Ereignisse ist eine Geschichte für sich. Von der Aufklärung inspiriert begann man im 19. Jahrhundert die Geschichte der Hexenverfolgungen kritisch aufzuarbeiten. So auch in Darmstadt. Dumm nur, dass der Hauptverantwortliche für die Hexenprozesse der damalige Landesherr Landgraf Georg I. war, denn Georg war auch Dynastiegründer der regierenden Herrscherfamilie. Ihn als religiösen Fanatiker darzustellen, der an Wahnvorstellungen litt, wie man es mit anderen Verantwortlichen gerne gemacht hatte, war da ausgeschlossen.

Bei dem Historiker Johann Steiner (1785-1870), der von Großherzog Ludwig II. zum Historiographen des großherzoglichen Hauses und Landes ernannt wurde, grenzte das schon fast an Schizophrenie. So kritisierte er die Hexenprozesse in Dieburg, die zu einer Zeit stattfanden, als Dieburg noch nicht zu Hessen-Darmstadt gehörte, wie damals üblich mit scharfen Worten und bezeichnete sie als Aberglauben und Wahn. Die Opfer der Hexenprozesse unter Landgraf Georg I. nannte er dagegen eine gefährliche Menschenklasse mit dem bösen Willen, Andern zu schaden.

Er fiel also in die Verschwörungstheorien des 16. und 17. Jahrhunderts zurück, die der gedankliche Unterbau der Hexenverfolgungen waren. Niemand widersprach ihm. Es ist absurd, aber damit war die Kritik an Georgs Hexenverfolgungen im aufgeklärten 19. Jahrhundert geringer als im 16. Jahrhundert.

Nachhaltiges Desinteresse

Wer nun aber meint, mit dem Ende der Monarchie wäre solch ein Unsinn aus der Geschichtsforschung verschwunden, der irrt. Noch 1977 schrieb Manfred Knodt über Georgs Hexenverfolgungen:

Wir stehen nicht an, derartige Verhaltensweisen zu mißbilligen, doch sollten wir berücksichtigen, daß die weltlich und geistlich Oberen als Kinder ihrer Zeit durchaus guten Glaubens waren und meinten, so verfahren zu müssen.

Das ist, um es deutlich zu sagen, einfach nur Quatsch. Es gibt immer wieder auch unter Historikern Versuche, fragwürdiges Handeln historischer Figuren mit dem Zeitgeist zu rechtfertigen, dass jemand also durch die Umstände dazu gezwungen war. In diesem Fall ist das jedoch eindeutig widerlegbar. Die Landgrafschaft Hessen war 1567 in vier Teile zerfallen, die von den Söhnen Landgraf Philipps I. regiert wurden. Die vier Landgrafenbrüder hatten also die gleiche Ausgangslage. Außer Georg lehnten sie jedoch alle Hexenverfolgungen ab und so fanden in dieser Zeit im übrigen Hessen – von einem Einzelfall in Hessen-Marburg abgesehen – auch keine Hinrichtungen wegen Hexerei statt.

Diese mangelhafte und unangemessene Auseinandersetzung mit den Darmstädter Hexenverfolgungen ist sehr ärgerlich. Nicht so sehr, weil Hexenverfolgungen auch heute noch einen gewissen „Spektakeleffekt“ haben und deshalb auch bei Leuten, die sich sonst nicht so sehr für Geschichte interessieren, Aufmerksamkeit erregen, sondern weil vor allem die erste Welle an Prozessen im Jahr 1582 durch die Geständnisse zweier Opfer und einem Briefwechsel der beiden Landgrafenbrüder Georg I. von Hessen-Darmstadt und Wilhelm IV. von Hessen-Kassel uns einen seltenen Einblick in die Lebens- und Gedankenwelt der Unterschicht geben, der Menschen, die die Geschichtsbücher meistens vergessen.

Die allgemeine Quellenlage verbessert sich im 16. Jahrhundert zwar enorm, vor allem nachdem Darmstadt 1567 Sitz des Landgrafen geworden ist, aber die meisten Dokumente beziehen sich dennoch lediglich auf den Landgrafen, seinen Hof oder das gehobene Bürgertum, die Reichen und Mächtigen also. Die Hexereigeständnisse sind in ihren Behauptungen, der Beschreibung einer magischen Welt, zwar absurd, doch unter der Oberfläche offenbaren sie die Gedanken- und Lebenswelt der armen Bevölkerung Darmstadts im 16. Jahrhundert.

Insgesamt eine gemäßigte Bilanz

Zieht man zunächst eine nüchterne Bilanz, so ist festzustellen, dass Hessen-Darmstadt, was Hexenhinrichtungen anbelangt, insgesamt gemäßigt war. Die überwiegende Zahl der Opfer gab es in der Gründungsphase der Landgrafschaft unter Georg I. Während des Höhepunkts der Hexenverfolgungen im 17. Jahrhundert kam es lediglich in jenen Teilen Oberhessens zu Hexenprozessen, die eigentlich zu Hessen-Kassel gehörten und von Darmstadt besetzt waren. Im Kerngebiet der Landgrafschaft lehnte die Obrigkeit Hexenprozesse in dieser Zeit ab, obwohl es entsprechende Forderungen aus der Bevölkerung gab.

18 Opfer gab es 1582, darunter die beiden minderjährigen Anne und Wolf, deren Geständnisse erhalten sind, 1586 wurden weitere 17 Frauen hingerichtet und 1590 nochmals zwei Frauen. Unter diesen nachweisbaren 37 Hinrichtungen (eine gewisse Dunkelziffer mag noch hinzukommen) befanden sich demnach nur Frauen und ein Junge. Hinzu kamen einige weitere Verurteilungen, die jedoch nicht die Todesstrafe zur Folge hatten. Einige wurden des Landes verwiesen, was für die meisten von ihnen dem Entzug jeglicher Lebensgrundlage gleichkam. Wie viele von ihnen später in einem anderen Land starben, weil sie verarmt am Rande der Gesellschaft leben mussten, wissen wir nicht.

Erwachsene Männer wurden auch beschuldigt, aber niemals hingerichtet. Die für die Hexenverfolgungen typische Zuspitzung auf weibliche Opfer war in Darmstadt mit etwa 97% demnach besonders ausgeprägt, im übrigen Europa lag die Zahl der weiblichen Opfer bei etwa 75-80%. Landgraf Georgs frauenfeindliche Einstellung, der zufolge Zauberei und Aberglaube fast ausschließlich unter „Weibspersonen“ zu finden sei, dürfte hierbei eine Rolle gespielt haben.

Ein Giftmord als Auslöser

Ein (vielleicht sogar der) Auslöser der Hexenprozesse 1582 war allerdings gar kein übernatürlicher Vorwurf, sondern ein Giftmord (eigentlich sogar ein Doppelmord), der wahrscheinlich tatsächlich stattgefunden hatte. Der Zusammenhang ist dabei, dass Giftmord zum einen als das typische Verbrechen einer Frau galt und zum anderen Giftmischerinnen oft mit Hexen gleichgesetzt wurden. Wer sich mit der Herstellung von Gift auskannte, der wusste sicher auch noch andere Gebräue herzustellen.

Wie tief im Denken dieses Klischee verwurzelt war, zeigt sich an diesem Fall besonders deutlich. Hintergrund war eine Liebesbeziehung zwischen einem Konrad Ballaß aus Bessungen und einer Darmstädterin namens Sara. Beide waren jedoch schon verheiratet und deshalb sollen sie den Plan ersonnen haben, ihre jeweiligen Ehepartner zu vergiften. Die Sache flog auf und Sara wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Weil sie jedoch schwanger war (wohl von Konrad Ballaß), wurde die Hinrichtung bis zur Geburt des Kindes aufgeschoben.

Dann aber wird es obskur: ob Konrad Ballaß für seine Tat bestraft wurde, ist nicht feststellbar, sicherlich nicht auf die gleiche Weise wie Sara und wohl auch nicht mit dem Tode, obwohl das bei Mord eigentlich zwangsläufig gewesen wäre. Möglich, dass man ihn als „von Hexen verführt“ von der Schuld freisprach oder zumindest ungewöhnliche Milde walten ließ.

Ballaß hatte unter Umständen einen gewissen Einfluss in der Stadt. Vielleicht war er ein Verwandter oder Nachfahre jenes Ballaß, der in Darmstadt erheblichen Grundbesitz gehabt haben muss. Die Pallaswiese, nach der die Pallaswiesenstraße benannt ist, leitet sich von eben diesem Namen ab und ist schon für 1523 belegt. Auch in Arheilgen wird 1561 ein Hans Balles als Schöffe erwähnt. Konrad Ballaß könnte derselben, offenbar einflussreichen Familie entstammen. Vielleicht hat ihm das das Leben gerettet.

Die Rolle der alten Weberin

Dafür aber wurde Saras Mutter, die nur als die alte Weberin bezeichnet wird, verurteilt und verbrannt, und das als eines der ersten Opfer. Sie soll ihre Tochter Sara und Konrad Ballaß miteinander verkuppelt haben. Das war damals strafbar. Und sie soll Sara zum Giftmord geraten haben. Doch auch wenn beide Vorwürfe stimmen sollten, zur Hexe hätte sie das noch nicht gemacht. Man kann daher davon ausgehen, dass sie im Zuge der Ermittlungen nach den Morden in die Mühlen der Justiz geriet und ihr das Hexereigeständnis auf der Folterbank abgepresst wurde.

Wohlgemerkt: wenn die Vorwürfe stimmen, dann hat sowohl Konrad Ballaß als auch Sara jeweils einen Mord begangen, die alte Weberin nicht. Trotzdem wird sie zuerst verbrannt. Konrad Ballaß überlebt die Sache allem Anschein nach und das obwohl aus dem Geständnis des jüngsten Sohns der alten Weberin, Wolf, zu schließen ist, dass Ballaß die aktiv handelnde Person bei der Vorbereitung der Morde war.

Dass die alte Weberin am Mord beteiligt war, ist dagegen unwahrscheinlich. Um ausreichend Wissen über Gifte zu erlangen, muss Ballaß bei einem „Schüler-Jung“ aus Dieburg Erkundigungen einholen. Die alte Weberin hatte offenbar nicht das Wissen zur Herstellung eines Gift-Cocktails. Ihre Hinrichtung erfolgte daher auch nicht wegen Mordes, sondern wegen „Zeuberey„. Der Mord, das reale Verbrechen, verkam zur Nebensächlichkeit.

Saras Flucht

Die alte Weberin sowie sieben weitere Frauen wurden irgendwann zwischen April und Juli 1582 hingerichtet. Sara stand bis zur Geburt ihres Kindes unter Arrest in den Räumlichkeiten des Neuen Tores, das sich auf dem heutigen Friedensplatz in der Nähe des Denkmals für Ludwig IV. befand.

Sara war nicht willens, den Feuertod zu erdulden und so drängte sie ihren kleinen Bruder Wolf, der zu diesem Zeitpunkt 10 oder 11 Jahre alt war, ihr entweder eine Feile zu bringen, damit sie sich von der Kette befreien, oder Gift, damit sie sich umbringen konnte. Sara war für Wolf die einzige Bezugsperson, die Mutter war tot und die anderen Geschwister auf der Flucht. So war klar, dass er ihr bei der Flucht helfen würde.

An diesem kleinen Detail kann man einiges über die Lebensumstände im Darmstadt des 16. Jahrhunderts erfahren. Zum einen ist da Wolf, ein etwa 10-jähriger Betteljunge, der in der Stadt allen bekannt gewesen sein muss und nach der Hinrichtung der Mutter und der Verhaftung der Schwester vollkommen auf sich allein gestellt war. Offensichtlich kümmerte sich niemand um ihn. Manchmal scheint man ihn zwar mit kleinen Botengängen beschäftigt zu haben, zumindest erklärt sich sonst nicht, wieso der Schreiner ihm bereitwillig und vertrauensselig eine Feile borgte, nachdem Wolf behauptete, der Pförtner bräuchte sie, aber wirklich gekümmert wurde sich um ein 10-jähriges Waisenkind, das für sein Essen betteln musste, nicht.

Auf der anderen Seite zeigt sich auch, wie es damals um den Justizvollzug bestellt war. Sara war offenbar nicht wirklich bewacht worden. Sie lag in Ketten, aber ihr Bruder konnte ein- und ausgehen und ihr Werkzeug bringen, mit dem sie sich am 10. Juli 1582 befreite, um dann – regelrecht filmreif – das Turmseil mit ihrem Bettlaken zusammenzubinden und sich an der Stadtmauer herabzuseilen. Lange dauerte ihre abenteuerliche Flucht jedoch nicht, schon tags drauf wurde sie in Bessungen wieder aufgegriffen.

Bei wem hatte Sara sich versteckt?

Bessungen ist ein interessanter Hinweis. Wolf sagt aus, dass sie sich in Langen treffen wollten, das erst einige Jahre später zu Hessen-Darmstadt kam. Wieso hält sie sich dann – offenbar zu lange – in Bessungen auf?

Konrad Ballaß lebte dort. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sich in seinem Haus aufgehalten hatte, weshalb sie auch von der Obrigkeit so leicht aufzuspüren gewesen ist. Das auffällige Schweigen des Landgrafen, wo genau in Bessungen Sara aufgegriffen wurde, wer ihr Unterschlupf gewährte, verstärkt die Vermutung, dass Konrad Ballaß einflussreich genug war, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Wolf dagegen kam nicht davon. Nachdem man Saras Flucht bemerkte, war sofort klar, dass er ihr geholfen haben musste und so nahm man ihn fest, noch bevor er die Stadt verlassen konnte.


Teil 2
wird uns in eine magische Welt führen, in der es Kutschen gibt, die ohne Pferde fahren, schwarze Katzen, die groß wie Schafe sind, und Dämonen mit einer Neigung zum Gruppensex.  

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