Die Eingemeindung Bessungens

Bessungen und Darmstadt hatten schon lange bevor eine Vereinigung der beiden Orte diskutiert wurde eine sehr enge Verbindung, mehr als zu allen anderen Nachbarorten. Im Hochmittelalter waren beide Orte Teil einer kleinen Grafschaft, deren Hauptort Bessungen war. Noch bis 1369, also 39 Jahre nach der Verleihung der Stadtrechte, mussten die Darmstädter zum sonntäglichen Gottesdienst nach Bessungen gehen. Erst danach wurde die kleine Darmstädter Kapelle zur eigenen Pfarrkirche erhoben.

Eine lange gemeinsame Tradition

Aber auch nachdem Darmstadt eigenständig und bedeutender als Bessungen geworden war, war die Beziehung zwischen den beiden Orten sehr eng. Man unterhielt ein gemeinsames Halsgericht, also das Gericht, das für schwere Straftaten wie Raub oder Mord zuständig war und körperliche Strafen bis hin zur Todesstrafe aussprechen durfte. Dieses gemeinsame Gericht war zu 2/3 mit Darmstädter und zu 1/3 mit Bessunger Schöffen besetzt. Der Einfluss Bessungens war dadurch enorm, hatte aber auch Nachteile, denn die Kosten dieses Gerichts waren nach dem gleichen Schlüssel aufgeteilt. Da die 2/3:1/3 Verteilung schon bald nicht mehr dem Verhältnis der Einwohnerzahlen der beiden Orte entsprach, zahlte Bessungen pro Kopf gerechnet deutlich mehr, im 16. Jahrhundert etwa das Doppelte.

Erstmals Gefahr, zumindest teilweise von Darmstadt „geschluckt“ zu werden, bestand für Bessungen kurz nach dem 30-jährigen Krieg. Der Landgraf bzw. dessen Frau, die Landgräfin Sophie Eleonore, hatte sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein großes Stück vom Darmstädter Stadtwald ohne Rechtsgrundlage angeeignet, um dort einen Tiergarten, die spätere Fasanerie, einzurichten. Der unvermeidliche Streit mit der Stadt, der darauf folgte, führte unter anderem zu dem Angebot des Landgrafen, den Darmstädtern als Entschädigung Teile des Bessunger Waldes zu überlassen. Die Darmstädter wollten jedoch diesen Wald nicht, sondern ihren eigenen zurück, und so blieb der Bessunger Wald unangetastet, während sich die Darmstädter und der Landgraf über viele Jahre hinweg weiter fröhlich stritten.

Darmstadt und Bessungen wachsen zusammen

Danach konnte sich Bessungen über knapp 200 Jahre einigermaßen ungestört entwickeln. Erst mit dem explosionsartigen Wachstum Darmstadts im 19. Jahrhundert wurde die Unabhängigkeit des Dorfes wieder bedroht. In den 1860er/1870er Jahren waren die beiden Orten in der Ecke Heinrichstraße/Karlstraße/Wilhelminenstraße im Prinzip schon zusammengewachsen. Die flankierenden Seiten bis zur Heidelberger Straße im Westen und der Nieder-Ramstädter-Straße im Osten wurden unmittelbar danach ebenfalls bebaut.

Entscheidend für die Weiterentwicklung war, dass es kaum Bessunger, sondern vor allem viele Darmstädter waren, die sich hier ihr Eigenheim errichteten. Darmstadt hatte seine Möglichkeiten an attraktiven Bauplätzen größtenteils erschöpft und so zogen die wohlhabenden Beamten der großherzöglichen Residenzstadt in den Norden Bessungens. Die Gegend um die Annastraße glich einer Pensionärssiedlung ausgedienter Staatsdiener. Lediglich im Nordosten des Neubaugebiets siedelten sich auch Bessunger Handwerker und Geschäftsleute an. Darüber hinaus wohnten wegen der nahen Kasernen im Westen Bessungens viele Soldaten und Offiziere in dem neu erschlossenen Wohngebiet. Und zu guter Letzt waren im Zeitalter der Industrialisierung auch viele Arbeiter nach Bessungen gezogen, das zu dieser Zeit immerhin rund 10 Fabriken auf seiner Gemarkung stehen hatte.

Doch all diese Neu-Bessunger waren nicht ganz glücklich, denn Bessungen hatte in ihren Augen eine sehr rückständige Verwaltung, die sich, trotzdem Bessungen keine arme Gemeinde war, strikt weigerte, ähnlich in Modernisierungen zu investieren, wie Darmstadt es tat. Vor allem die Wasserleitungen und die Kanalisation waren in den Neubaugebieten noch kaum ausgebaut und fielen sowohl an heißen Sommertagen als auch in harten Wintern aus. Fließendes Wasser in den Häusern war Glückssache.

Der Gemeinderat, der hauptsächlich aus alteingesessenen Bessungern aus dem Dorfkern bestand, sah jedoch keine Veranlassung zu einem schnellen Ausbau. Sie wollten das Steuergeld, das bereits zu etwa 75% von den Bewohnern der Neubaugebiete kam, lieber für Notzeiten zurücklegen.

From the dark end of the street to the bright side of the road

Diese so unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Philosophien führten vor allem des Nachts in der Heinrichstraße, damals die Grenze zwischen Darmstadt und Bessungen, zu einem besonderen Schauspiel. Darmstadt hatte bereits 1855 begonnen, seine Straßenbeleuchtung auf Gas umzustellen. 1880, als die Diskussionen über einen möglichen Anschluss Bessungens an Dynamik gewannen, war diese Umstellung in Darmstadt größtenteils abgeschlossen. Bessungen dagegen verwendete noch vollständig eine deutlich schwächere Petroleumbeleuchtung, die schon bei leichtem Wind dazu neigte zu verlöschen.

Begab man sich damals von einem Ort zum anderen, so konnte man anhand der Bebauung nicht erkennen, wann man Darmstadt verließ und Bessungen betrat. Am Abend jedoch bemerkte man es an der plötzlichen Finsternis, die einen umgab. Umgekehrt war es dagegen so, als trete man aus einer dunklen Höhle, verließ man das zwielichtig beleuchtete Bessungen in Richtung Darmstadt.

Die Grenze zwischen Darmstadt und Bessungen war wie ein Tor, das einen – je nachdem aus welcher Richtung man kam – mindestens 30 Jahre in die Vergangenheit oder Zukunft führen konnte. Auf Dauer waren diese Zustände für die wohlhabenden Neu-Bessunger nicht tragbar und so wuchs der Druck auf den Gemeinderat, einer Vereinigung mit Darmstadt zuzustimmen.

Widerstand im Gemeinderat

Doch der Gemeinderat wurde von überwiegend noch bäuerlichen Alt-Bessungern dominiert, die nicht gewillt waren, ihre Jahrhunderte lange Unabhängigkeit aufzugeben. Für sie waren die Zugezogenen keine echten Bessunger. Da die meisten Neubürger aus Darmstadt gekommen waren, wurde ihnen sogar vorgeworfen, sie wären „Reu’geschmuggelte„, sollten also die Bessunger unterwandern, um die für Darmstadt günstige Vereinigung durchzusetzen. Eine kleine Verschwörungstheorie ist immer hilfreich, wenn man kein Verständnis für eine andere Meinung entwickeln will.

Größte Unterstützergruppe der alten Bessunger waren die Gewerbetreibende. Diese hatten aber handfestere Gründe: die Gewerbesteuer war in Darmstadt deutlich höher und die hätten sie bei einer Vereinigung aufbringen müssen.

Überhaupt drehten sich die sachlichen Argumente der Vereinigungsgegner hauptsächlich um Geld. Die Modernisierung der Infrastruktur war für Darmstadt teuer gewesen und so war die Stadt hochverschuldet. Die Bessunger hatten sich Modernisierungen größtenteils verweigert und so natürlich auch weniger Geld ausgegeben. Man fürchtete daher nicht ganz zu Unrecht, dass die Vereinigung der beiden Orte hauptsächlich der Sanierung der Stadtfinanzen Darmstadts dienen sollte. Auch war die wichtigste Einnahmequelle Bessungens ihr umfangreiches Waldgebiet, das nach einer Vereinigung zentral von Darmstadt aus verwaltet werden würde und der Ertrag mit dem viel größeren Darmstadt geteilt werden musste.

Jahrelanger Streit

Der Streit tobte über mehrere Jahre, in denen jedes Mittel der Kommunalpolitik angewandt wurde. Neben dem Boykott von Gemeinderatssitzungen bzw. dem demonstrativen Verlassen selbiger, wenn eine Abstimmung nicht so verlief, wie man das gerne gehabt hätte, veröffentlichte man anonyme Flugblätter, sammelte Unterschriften und brachte regelmäßig Anträge zur Vereinigung mit Darmstadt in die Sitzungen ein. Trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit der Gegner saßen die Befürworter damit am längeren Hebel, denn es war egal, wie oft sie Abstimmungen verloren, sie mussten sie nur ein einziges Mal gewinnen und eine einmal durchgeführte Vereinigung mit Darmstadt war praktisch nicht mehr rückgängig zu machen. So brachten sie ihren Antrag zur Vereinigung regelmäßig wieder und wieder in die Sitzungen ein, verloren ihn genauso regelmäßig, bis zu dem Zeitpunkt, als sich die Mehrheitsverhältnisse endlich zu ihren Gunsten änderten.

1886 war es so weit. Vor allem die immer katastrophaleren Zustände bei der Wasserversorgung und die Einsicht, dass Bessungen für eine Modernisierung früher oder später mehr Kapital in die Hand nehmen musste, als es besaß, dürften diesen Stimmungswandel begünstigt haben. Man beschloss nun überraschend zügig, die Vereinigung zum 01. April 1887 durchzuführen.

Das letzte Aufbäumen der Gegner

Dann aber fanden sich die Vereinigungsgegner noch einmal zu einem letzten Gefecht zusammen. Wieder war der Bessunger Wald einer der Streitpunkte, denn als man sich zusammensetzte und auflistete, wer welche Vermögenswerte in die Vereinigung einbrachte, konnte Darmstadt bei seinem Wald auf eine aktuelle Wertschätzung zurückgreifen, während der Wert des Bessunger Waldes seit vielen Jahren nicht mehr geschätzt worden war und vermutlich tatsächlich mehr als 6mal so hoch war wie angegeben. Auch sonst verhielt sich Darmstadt reichlich undiplomatisch und versuchte, die Vermögensangaben der Gemeinde Bessungen zu drücken, wo immer es ging. Der Verdacht, den viele Bessunger hatten, dass sich Darmstadt mit der Vereinigung lediglich zu Ungunsten Bessungens bereichern wollte, gewann damit wieder an Zuspruch.

Die Verhandlungen gerieten ins Stocken und da just in dieser Zeit auch eine Ergänzungswahl des Gemeinderat anstand, veränderten sich die Mehrheitsverhältnis wieder. Nun waren die Gegner der Vereinigung wieder am Zug und verhinderten die geplante Vereinigung zunächst. Sie konnten sie allerdings nur verzögern und Nachverhandlungen mit Darmstadt erzwingen, denn es war mittlerweile unübersehbar, dass Bessungen die Aufgaben, die sich angesichts des enormen Bevölkerungswachstums stellten, nicht mehr allein stemmen konnte.

Die rigorose Sparpolitik war an ihre Grenzen gelangt und man hatte bereits einen hohen Kredit aufnehmen müssen, nur um die ohnehin um mindestens eine Generation veraltete Wasserversorgung der Gemeinde einigermaßen instand zu halten. Den daraus resultierenden öffentlichen Druck konnte sich der Gemeinderat nicht lange erwehren und so fand die Vereinigung mit Darmstadt schließlich mit einem Jahr Verspätung am 01. April 1888 statt.

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