Der Ursprung Darmstadts – Teil 1

Eine kurze aktualisierte Übersicht zu dem Thema gibt es: hier

Wie bei vielen, wenn nicht den meisten Orten ist die Gründung auch bei Darmstadt eher rätselhaft, da über die ersten Jahrhunderte des Ortes keinerlei Aufzeichnungen existieren. Die frühste erhaltene Erwähnung Darmstadts wird auf die 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert und außer der später nicht mehr auftauchenden Schreibweise Darmundestat gibt diese Erwähnung keine relevanten Informationen über die Stadt.

Man war sich schon früh einig darüber, dass Darmstadt nicht erst im 11. Jahrhundert entstanden war. Hauptgrund für diese Annahme ist die Endsilbe (Suffix) -stat. Darmstadt ist erst 1330 zur Stadt im modernen Sinne des Wortes geworden. -stat bedeutete ursprünglich nicht mehr als Stätte, Siedlung, Ort oder ähnliches. In diese Richtung sind auch andere Ortsnamen wie Eberstadt, Pfungstadt, Crumstadt, etc. zu deuten. Und einige dieser Orte werden bereits im 8. Jahrhundert erwähnt, so dass es als nahezu sicher gelten kann, dass Darmstadt ebenfalls bereits im 8. Jahrhundert existierte. Spätere Siedlungswellen nutzten andere Suffixe.

Ein römischer Kaiser als Namenspatron?

Mit der Frage nach der Zeit der Gründung ist auch die Frage nach dem Gründer verbunden, und da gab es in der Vergangenheit (aber auch heute noch) unterschiedliche Auffassungen. Im 18. Jahrhundert beispielsweise war man sich sicher, Darmstadt sei von den Römern gegründet worden und der wenig schmeichelhafte Name „Darm“ sei ein im Laufe der Zeit verstümmeltes Trajan, Darmstadt also nach dem römischen Kaiser Marcus Ulpius Traianus benannt. In Zedler’s Universal-Lexicon (1732-1754) wird außerdem behauptet, Trajan hätte hier ein Kastell „wider die Chatten“ errichtet.

[Ergänzung vom 23.09.2015: Dass der Name Darmstadt sich von Trajan ableiten würde, behauptet bereits Sebastian Schröter in dem 1620 veröffentlichten Historica Totius Terrarum Orbis]

Auch dass Darmstadt ursprünglich Darmundestat hieß, störte bei dieser These nicht. Im Gegenteil: der antike römische Historiker Ammianus Marcellinus erwähnt ein munimentum (Befestigung), das Trajan in unserer Gegend errichtet hatte. Man nahm dann an, dass sich aus Trajan und munimentum über die Zwischenschritte Tramunimentum und Tramunde der Begriff Darmunde entwickelt hatte, an den man noch das Suffix –stat anhängte.

Das Ganze ist Unsinn. Trajans munimentum muss eine sehr bedeutende Anlage gewesen sein. Es ist nahezu undenkbar, dass hiervon keine Spuren mehr nachzuweisen wären. Auf dem Gebiet des mittelalterlichen Darmstadts gibt es aber keine römischen Überreste, obwohl die Römer in unmittelbarer Umgebung mit deutlich unbedeutenderen Bauten nachgewiesen sind. Außerdem geht man heute davon aus, dass Trajans munimentum gar kein einzelnes Kastell gewesen sein kann, sondern ein umfangreicher militärischer Komplex. Ein Kandidat, der diskutiert wird, ist der Neckar-Odenwald-Limes.

Darmbach

Im 19. Jahrhundert entwickelte man eine Reihe von neuen Ideen. Der Darmbach rückte in den Fokus. Das war zunächst einmal keine dumme Idee, Gewässer haben durchaus ihre Rolle bei unzähligen Ortsnamen gespielt. Blöderweise hieß Darmstadt aber ursprünglich Darmundestat. Wenn der Name vom Darmbach abgeleitet wurde, was bedeutet dann die zweite Silbe unde oder (falls man annimmt, ein zweites m hätte sich im Laufe der Zeit verschliffen) munde? Man entschied sich für die Variante mit dem verschliffenen m und nahm an, Darmundestat bedeute: die Stätte (stat), wo der Darmbach (Darm) mündet (munde).

Der ein oder andere wird da schon einwenden, dass der Darmbach in Darmstadt ja gar nicht mündet, sondern hindurchfließt. Erschwerender aber ist, dass der Name Darmbach historisch erst im 19. Jahrhundert auftaucht, also parallel zu der These, er hätte der Stadt den Namen gegeben. 1794 wird er als Darmstädterbach überliefert, ca. 1720 leicht größenwahnsinnig sogar als Darmstat Fluss. Davor scheint er gar keinen speziellen Namen gehabt zu haben, zumindest sprechen die wenigen Erwähnungen, die heute noch bekannt sind, schlicht von die Bach (die weibliche Form für Bach war damals in unserer Gegend nicht unüblich).

Der Darmbach hat seinen Namen also von der Stadt und nicht umgekehrt. Dennoch wird diese Erklärung bis heute manchmal herangezogen. Ein Beleg dafür, wie schwer es ist, auch eindeutig widerlegte Thesen aus der Diskussion zu bekommen.

Darmunda & Darmund

Auch der Volksmund hatte eine Lösung parat. Demnach liegt der Ursprung Darmstadts bei einer Grafentochter namens Darmunda, die sich in einen armen Ritter verliebte, mit dem ihr Vater jedoch nicht einverstanden war. Darmunda floh mit ihm in den Wald, wo sie eine Familie gründeten. Einige Jahre später verirrte sich der Graf in diesem Wald und – wie könnte es anders sein – erreichte die Hütte von Darmunda und ihrem Ritter. Sie versöhnten sich und weil die beiden ihr kleines Zuhause mittlerweile lieb gewonnen hatten, der Graf seine Tochter aber standesgemäß leben lassen wollte, baute er ihr ein Schloss an dieser Stelle, in dem das Häuschen integriert wurde. Dabei handelt es sich um das Darmstädter Schloss, das damit auch der Ursprung des Ortes ist.

Das ist natürlich nur eine Volkssage, deren Wahrheitsgehalt bei null liegt. Umso erstaunlicher, dass die seriöse Ortsnamenforschung des 19. Jahrhunderts eine ganz ähnliche Erklärung entwickelte. Keine Grafentochter namens Darmunda, sondern ein fränkischer Adliger namens Darmund soll den Ort gegründet haben. Bereits irgendwann vor 1830 muss man damit begonnen haben, diese Idee zu entwickeln. Wie weit sie da schon gereift war, ist nicht mehr ganz nachzuvollziehen. Konkrete Ausführungen dazu machte Julius Friedrich Karl Dilthey, der damalige Direktor des Pädagogs, erst 1851 in der Zeitschrift für die Archive Deutschland’s. Da der entsprechende Artikel die Ergebnisse von Diltheys Forschungen zu Dutzenden von Ortsnamen präsentiert, ist meine Vermutung, dass er die Idee vom Ortsgründer Darmund schon seit längerer Zeit mündlich verbreitet hatte.

„Darmund [findet sich] in Darmstadt, Darmundestat 1094, Darmestat 1277, wobei jedoch nicht zu verschweigen ist, daß ich für Darmund kein anderweitiges Beispiel nachweisen kann. Da im Mittelalter Brüder oft Namen mit gleicher Endung geführt haben, so ließen sich drei Brüder, Aschmund, Darmund und Otmund, als Erbauer von Astheim, Darmstadt und Umstadt denken.“

Die These der drei Brüder Aschmund, Darmund und Otmund, sozusagen Tick, Trick und Track von Südhessen, ist eher unfreiwillig komisch und wird daher auch später von niemanden wiederholt. Es zeugt eher von der etwas naiven Vorstellungswelt Diltheys. Die Idee vom Ortsgründer Darmund, den man bald darauf zum Franken erklärte, blieb aber hängen.

Darmstadt als fränkische Gründung

Wieso die Franken? Zum einen, weil diese nach der Unterwerfung der Alemannen Südhessen in mehreren Wellen besiedelten. Üblicherweise zerstörten sie bei ihren Eroberungen die bestehenden Siedlungen aber nicht. Wieso sollte Darmstadt also zwangsläufig eine fränkische Siedlung sein und nicht beispielsweise eine alemannische? Die ältesten indirekten Siedlungsspuren im Bereich der mittelalterlichen Stadt sind Gräberfunde in einem Bereich etwa vom Weißen Turm bis zum Marktplatz. Sie stammen von den Sueben. Die Sueben aber gingen später im Großstamm der Alemannen auf.

Der Ortsname stammt zwar sicher noch nicht aus der Zeit dieses Fundes (1. Jahrhundert vor Christus), aber es fällt auf, dass das -stat-Suffix im Kerngebiet der Franken unbekannt gewesen zu sein scheint. Das ehemalige Alemannen-Gebiet ist dagegen regelrecht zugepflastert von -stat-Orten, ebenso die Ost- und Südgrenze des damaligen Thüringen und die Nordhälfte des ehemaligen Siedlungsgebiets der Sachsen, alles Gebiete, die die Franken eroberten, aber nicht zu ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet gehörten. Auch ein „Eroberungs-Suffix“, also eine Endung, die die Franken eben für eroberte Gebiete verwendeten, kann es nicht gewesen sein, denn Bayern, ebenfalls ein von den Franken im Frühmittelalter erobertes Gebiet, weist kaum -stat-Orte auf. Und dass die Sachsen das Suffix nach England exportierten, also außerhalb des fränkischen Einflussgebiets, bevor sie von den Franken besiegt wurden, zeigt, dass bei den Sachsen dieses Suffix traditionell verwendet wurde und nicht erst durch die Eroberung der Franken ins Land kam.

Besonders skurril ist, dass gleichzeitig alle Orte, die auf -ingen oder Varianten davon (beispielsweise Arheilgen oder Bessungen) enden, als alemannische Gründungen gedeutet wurden. Zwar ist es vollkommen richtig, dass diese Endung im alemannischen Gebiet häufig vorkommt, aber im Gegensatz zum stat-Suffix zusätzlich auch im fränkischen Gebiet. Auch war Bessungen im Mittelalter der zentrale Ort der Gegend und Namensgeber einer Grafschaft, der auch Darmstadt angehörte. Der kirchliche Mittelpunkt lag ebenfalls in Bessungen, erst 1369 – lange nachdem Darmstadt durch seine Wasserburg Bessungen in der politischen Bedeutung überholt hatte – wurde die der Bessunger Kirche untergeordnete kleine Darmstädter Kapelle, aus der später die Stadtkirche werden sollte, von Bessungen gelöst. Man kann vermuten, dass solche Verhältnisse einen deutlich älteren Ursprung haben und da die Alemannen erst nach ihrer Unterwerfung durch die Franken nach und nach christianisiert wurden, spricht auch die Tatsache, dass Darmstadt lange Zeit keine eigenständige Kirche hatte, sondern der von Bessungen zugeteilt war, dafür, dass Darmstadt alemannische und Bessungen fränkische Gründungen sind.

Dennoch entschied man sich bei Darmstadt und all den anderen südhessischen -stat-Orten für die Franken als Gründervolk. Warum ist nicht nachvollziehbar. Vielleicht weil man es einfach nicht wahrhaben wollte, eine Gründung der „Verlierer“ zu sein? Oder hatte es etwas mit dem im 19. Jahrhundert aufkeimenden Nationalismus zu tun? Immerhin galten nicht die Alemannen, sondern das ostfränkische Reich als Ursprung Deutschlands.


In Teil 2 geht es um schwer bewaffnete Förster und um einen Eber, der ein Eberhard gewesen sein soll.

6 Responses to Der Ursprung Darmstadts – Teil 1

  1. Tribur says:

    Wollte mal einen neuen Aspekt einflechten, auf den ich kürzlich (um Ecken) aufmerksam gemacht wurde und der bisher in der Siedlungsgeschichte nur wenig beachtet wurde. Es kam nach 531 zu einer vermehrten Ansiedlung von Thüringern im Rhein Main Gebiet. Möglicherweise als (Zwangs-)Umsiedlung nach der Einrichtung des Herzogtum Thüringen durch die Franken. Im hessischen südhessischen Teil des Rhein-Main-Gebietes ist das Fundgut bisher nicht explizit auf thüringische Funde hin untersucht worden. Auch die Züge nach Thüringen sollen vom Rhein Main Gebiet ausgegangen sein. (Bin da gerade dran) Literatur: Marcus C. Blaich „Bemerkungen zu thüringischen Funden aus frühmittelalterlichen Gräbern im Rhein-Main-Gebiet“ in „Die Frühzeit der Thüringer“ 2009 bei de Gruyter (In Teilen bei Google Books lesbar!)

    • Jörg Heléne says:

      Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir uns völlig falsche Vorstellungen von der Art und Weise machen, wie die Menschen damals siedelten. Die Leute waren viel mobiler. Allerdings habe ich mir tatsächlich noch keine Gedanken darüber gemacht, inwieweit Thüringer bei uns gesiedelt haben. Das ist in der älteren Literatur nie in Erwägung gezogen worden. Aber da hat man es sich ja ohnehin viel zu leicht gemacht.

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