Pizarro bat nicht um Asyl

Eine Meldung der letzten Tage, die nach meinem Eindruck etwas unterging, war das Urteil eines Gießener Verwaltungsrichters zu der Frage, ob der NPD-Slogan: „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt“ volksverhetzend ist.

Der Straftatbestand der Volksverhetzung ist in Abwägung mit der Meinungsfreiheit eine sehr komplizierte Sache und muss ständig neu interpretiert werden. Von daher ist die Frage, ob der Straftatbestand hier erfüllt wurde oder nicht, durchaus diskutabel.

Was aber beunruhigend ist, ist die richterliche Begründung, weshalb der Slogan den Straftatbestand nicht erfüllt. Nicht etwa, weil er nicht so weit ginge, als dass er nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt wäre, sondern weil die Behauptung „Migration tötet“ „empirisch zu beweisen“ wäre. Als Beispiel führt er den Untergang des Römischen Reichs und der Inka an.

Das ist eine mehr als kuriose Interpretation von Geschichte. Dass die Völkerwanderung den Niedergang des Römischen Reichs verursacht hätte, ist eine überholte Ansicht. Das Römische Reich hatte zuvor in seiner Geschichte mehrere Anstürme von Völkern aus dem Norden überstanden. Tatsächlich rechtfertigte man die Expansionspolitik des Reichs auch mit einer Urkatastrophe, der Einnahme und Plünderung Roms durch die Senonen unter Brennus: „Vae victis“. Die Expansion sollte auch dazu dienen, kriegerische Konflikte außerhalb der italienischen Halbinsel auszutragen.

Die sogenannte Völkerwanderung konnte deshalb stattfinden, weil das Reich schon vorher nicht mehr so stabil war wie zu Trajans Zeiten. Das Problem, dass kriegerische Konflikte jenseits des Rheins zu Wanderbewegungen führten, hatte Rom spätestens seit es über das heutige Italien hinausgewachsen war. Auslöser des Gallischen Kriegs war die Wanderbewegung der Helvetier, die von den Sueben vertrieben wurden. Zerstört hat es das Reich nicht.

Die Völkerwanderung in der Spätantike wurde zumindest in diesem Ausmaß auch deshalb möglich, weil das Römische Reich bereits am Zerfallen war. Man kann darüber diskutieren, ob die Völkerwanderung zumindest dem Weströmischen Reich „den Rest gegeben“ hat. Ausgelöst hat sie den Niedergang aber sicher nicht. Da verwechselt man Ursache mit Wirkung. Die germanischen Stämme nutzten vielmehr ein entstehendes Machtvakuum.

Darüber hinaus ist es kaum nachvollziehbar, die Völkerwanderung mit der heutigen Migrationsbewegung zu vergleichen. 2017 entsprach der Anteil an den sogenannten „erstmaligen Asylbewerbern“ im Vergleich zur Bevölkerungszahl der Bundesrepublik ca. 0,24%. Trotz der berühmten römischen Volkszählungen ist die Bevölkerungszahl des Römischen Reichs nicht 100% feststellbar. Kaum eine Schätzung nimmt aber auch zur Blütezeit mehr als 100 Millionen Menschen an (die meisten deutlich weniger). Eine Zuwanderung im gleichen Verhältnis, also 0,24%, würde nicht einmal 250.000 Menschen pro Jahr bedeuten, verteilt auf halb Europa und Teile Nordafrikas. Ein funktionierendes Römisches Reich wäre damit zurecht gekommen.

Noch absurder ist der Vergleich mit den Inka. Auf die Idee zu kommen, die Inka wären an spanischer Migration zugrunde gegangen, zeugt von einem enorm naiven und uninformierten Geschichtsbild. Pizarro migrierte nicht. Er führte Krieg. Er bat nicht um Asyl. Er eroberte. Und dass er mit seiner Mini-Truppe erfolgreich sein konnte, lag zum einen an der waffentechnischen Überlegenheit, vor allem aber daran, dass das Inka-Reich aufgrund eines Bürgerkriegs ohnehin schon darniederlag.

Warum große Staatsgebilde wie das Römische Reich oder die Inka zusammengebrochen sind, ist eine sehr komplizierte Frage, mit der sich Historiker über Jahrzehnte hinweg intensiv beschäftigen, Quellen überprüfen, Theorien aufstellen, etc. Dabei entstehen zwangsläufig unterschiedliche Auffassungen. Wenn jetzt ein Richter meint zu entscheiden, dass es „empirisch zu beweisen“ wäre, dass „Migration tötet“, dann ist das sehr, sehr anmaßend und historisch keineswegs belegbar. Wer Menschen, die mit Handgepäck vor Kriegen fliehen, mit den hochgerüsteten spanischen Conquistadoren gleichsetzt, offenbart ein seltsames Geschichts- und Menschenbild.

Ein weiteres Zitat aus dem Urteil erklärt es vermutlich, so schreibt bspw. hessenschau.de:

„In der Tat hat die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen“, erklärte der Richter und fuhr fort: „Sollte die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr in der Lage sein, das Gewaltmonopol innerhalb ihrer Grenzen effektiv und wirksam auszuüben, ist hiermit ein schleichender Untergang verbunden, wie es einst im römischen Weltreich auch der Fall war.“

Geht’s nur mir so oder erhöht der Richter hier seine private Meinung zu einem juristischen Urteil? Seine Meinung darf er selbstverständlich haben, aber ich bin der Meinung, dass so eine Aussage in einem solchen Urteil absolut nichts verloren hat.

5 Responses to Pizarro bat nicht um Asyl

  1. Carsten says:

    Gab es historische Gutachten als Teil der Beweisaufnahme? Ich habe nichts dazu gefunden…. – was bedeuten würde, dass sich der Richter selbst als Historiker betrachtet.

    Ich hoffe es geht in die Revision – denn so ein Urteil dürfte da nach besten juristischen Grundsätzen keinen Bestand haben.

    Überrascht bin ich davon natürlich nicht – denn die Rechtslastigkeit der juristischen Fakultäten und der Richterschaft („der Muff von 1.000 Jahren“) ist ja lange bekannt. Hier scheint mir ein weiterer Fall von offener NPD-Sympathie vorzuliegen. Vielleicht ein Anlass, auch andere Urteile dieses Richters mal unter die Lupe zu nehmen.

    • Jörg says:

      Gab es historische Gutachten als Teil der Beweisaufnahme?

      Sieht nicht so aus.

      Ich hoffe es geht in die Revision – denn so ein Urteil dürfte da nach besten juristischen Grundsätzen keinen Bestand haben

      Die Stadt hat Berufung eingelegt… was leider nur bedingt hilfreich ist, denn es gibt durchaus juristische Gründe, weshalb man zu dem Ergebnis kommen könnte, dass die Stadt die Plakate nicht hätte verbieten dürfen. Im nächsten Wahlprogramm der AfD wirst du dann lesen, dass die Berufung gegen die Behauptung des Richters gescheitert ist und die Behauptung daher korrekt. Dass der Verwaltungsgerichtshof tatsächlich aus völlig anderen Gründen so entschieden haben wird, kannst du dann gerne erwähnen, wird aber niemanden interessieren.

      Vielleicht ein Anlass, auch andere Urteile dieses Richters mal unter die Lupe zu nehmen.

      Derselbe Richter war ja schon mal in den Schlagzeilen, weil er infrage stellte, ob Jobcenter Behörden sind. Begründung: Der Name ist Englisch. Schon da hätte man fragen dürfen, ob die richterliche Unabhängigkeit nicht ein Mindestmaß an inhaltlicher Kompetenz voraussetzt. Da hängt ja Rechtssicherheit von Menschen dran, es kann sich schließlich nicht jeder ein aufwendiges Berufungsverfahren leisten.

  2. Carsten says:

    Gedanke: Könnte ich dann nicht eigentlich mit gleichem Recht behaupten: „AfD tötet“?
    Das lässt sich definitiv „empirisch belegen“.

  3. Pingback: Muff von 1.000 Jahren | Neun Mal Sechs

  4. Carsten says:

    Zur Info: Ich habe jetzt auch dazu gebloggt – weniger kenntnisreich als du. Statt dessen mit dem Ziel alle bekannten Fakten zusammen zu tragen und das Urteil in einen größeren Kontext zu stellen. Kritische Anmerkungen wie immer willkommen.
    http://blog.neunmalsechs.de/2019/12/03/muff-von-1-000-jahren/

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