Geschichte der Juden in Darmstadt

Im ausgehenden 19. Jahrhundert gehörte das jüdische Leben zum Stadtbild wie die Mollerstadt oder das Schloss. Die liberale Synagoge in der Friedrichstraße war eines der architektonisch schönsten Gebäude der Stadt. Der Nationalsozialismus zerstörte diesen Teil der Darmstädter Geschichte vollständig. Es war der letzte grausame Akt der Jahrhunderte langen Geschichte einer Minderheit. Ein geschichtlicher Überblick über das jüdische Leben in Darmstadt.

Anfangszeit

In ihrem „Roman von einem Feld“ lässt Katja Behrens das jüdische Leben in Darmstadt bereits im Zeitalter des Schwarzen Todes, der großen Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts, beginnen. Das Buch ist aber schlampig recherchiert und hat etliche grobe historische Fehler. Behrens extrapoliert das erste Auftreten von Juden in Darmstadt über die Pestpogrome, die aus anderen Gegenden bekannt sind. Für Darmstadt ist das jedoch nicht anzunehmen, denn damals lebten allem Anschein nach noch gar keine Juden in der Stadt.

[kleine (Teil-)Korrektur vom 21.10.2015: nach erneuter Lektüre des Romans komme ich zu der Überzeugung, dass Behrens an der Stelle tatsächlich vom 17. Jahrhundert spricht, nicht vom 14. Mein Irrtum beruhte hier darauf, dass sie für die Pest den Begriff „Schwarzer Tod“ verwendet, der eigentlich explizit die Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts meint. Schlampig recherchiert bleibt es trotzdem, denn der Begriff gehört eben nicht ins 17. Jahrhundert und die von ihr beschriebenen Pogrome fanden in Darmstadt in dieser Zeit nicht statt.]

1529 werden erstmalig in Darmstadt lebende Juden namentlich erwähnt: Jakob und Moses. Die beiden hatten wahrscheinlich auch eine Familie und eventuell ebenso jüdische Angestellte, so dass man vermuten kann, dass damals – einschließlich Kinder – höchstens 10 oder 15 Juden in Darmstadt lebten. Paradoxerweise beginnt das jüdische Leben in Darmstadt damit ausgerechnet in einer Zeit, da die Repressalien und Diskriminierungen gegenüber den Juden in der ganzen Landgrafschaft zunehmen. Der in Kassel regierende Landgraf Philipp hegte kurzzeitig sogar den Plan, alle Juden aus seinem Land zu vertreiben, was sich dann aber in der Praxis nicht umsetzen ließ. Nebenbei ein Beleg, wie es um die landesherrschaftliche Macht in der frühen Neuzeit bestellt war.

Da eine Vertreibung nicht durchsetzbar war, machte Philipp den Juden das Leben mit immer neuen Verordnungen so schwer, dass viele freiwillig das Land verließen. Eine Vertreibung über Bande sozusagen. Jakob, Moses und ein 1536 erwähnter Jude namens Meyer waren nur wenige Jahre in Darmstadt ansässig, schon Mitte des 16. Jahrhunderts scheint kein Jude mehr in der Stadt gelebt zu haben. Auch in der übrigen Landgrafschaft wurden es immer weniger. Erst gegen Ende seiner Regierungszeit begann Philipp vorsichtig, die harte Gesetzgebung etwas zu lockern.

Erste Liberalisierung

Philipps Sohn Georg, der erste Landgraf, der in Darmstadt residierte, verfolgte eine tolerantere Politik gegenüber den Juden. Das überrascht ein wenig, denn Georg war alles andere als für eine liberale Politik bekannt. Aber er hatte wohl erkannt, dass die Juden eine lukrative Einnahmequelle für seine klamme Landgrafschaft waren, denn um so etwas wie Rechtssicherheit zu erlangen, mussten Juden eine jährliche Abgabe zahlen. Als Gegenleistung garantierte ihnen der Landgraf dafür bestimmte Rechte und stellte sie unter seinen persönlichen Schutz, weshalb man auch von „Schutzjuden“ sprach. Praktisch bedeutete das, dass sie ihre Rechte, die in den landgräflichen „Judenordnungen“ festgeschrieben waren, auch gegen den Willen der Stadt- oder Dorfobrigkeiten durchsetzen konnten.

Diese Liberalisierung sorgte wieder für Zuzug von Juden in die Landgrafschaft. Während sich in den umgebenden Ortschaften (darunter auch Arheilgen und Eberstadt) schon bald mehrere jüdische Familien ansiedelten, schien es in Darmstadt selbst jedoch weiterhin schwierig zu sein. In seiner Residenz wollte Georg sie dann wohl doch nicht haben. Immerhin ist anzunehmen, dass die in der Umgebung lebenden Juden regelmäßig ihre Waren auf dem Darmstädter Markt anboten.

Ludwig V., der von 1596 bis 1626 regierte, verbesserte die rechtliche Lage weiter, so dass sich nun endlich auch direkt in Darmstadt wieder Juden ansiedeln konnten. 1623 lebten bereits acht Schutzjuden in der Stadt (plus ihrer Familie und evtl. Bedienstete), einer von ihnen war als Arzt tätig. Nicht alle blieben dauerhaft, zum ersten Mal kann man aber wirklich davon sprechen, dass in Darmstadt eine kleine jüdische Gemeinde existierte. Und das überraschend integriert in die bürgerliche Gesellschaft, denn sie lebten nicht zusammengepfercht in einem „Judenviertel“, sondern ganz normal zwischen den übrigen Bürgern.

Die Stimmung kippt

Die Bürger der Stadt scheinen diese Entwicklung nicht gern gesehen zu haben. 1623 musste der jüdische Arzt um Schutz des Rates bitten, weil man ihm damit gedroht hatte, die Türen und Fenster seines Hauses einzuschlagen. Der Anlass dafür war eine Lappalie: er soll die Straßen verunreinigt, sprich Müll auf die Gasse geworfen haben, ein damals weit verbreitetes Fehlverhalten. Über Christen wurde sich deswegen zwar auch beschwert, aber niemals mit Gewalt gedroht.

Die Drohung wurde nicht in die Tat umgesetzt, es zeigt jedoch, dass in der instabilen politischen Lage (der 30-jährige Krieg hatte begonnen) die Stimmung gegenüber den Juden an einem Punkt angelangt war, an dem ein Pogrom nicht mehr ausgeschlossen werden konnte. Die liberale Politik des Landgrafen konnte Judenverfolgungen zwar verhindern, aber keine Vorurteile.

Mit dem Tod des alten Landgrafen 1626 spitzte sich die Lage zu, denn sein Sohn Georg II. war offen antisemitisch eingestellt. Eine seiner ersten Amtshandlung war eine Aufforderung an die Juden, schnellstmöglich das Land zu verlassen. Das war praktisch die Aufhebung aller Rechte. Er gab damit aber auch der judenfeindlichen Stimmung in der Bürgerschaft weiter Auftrieb. Weil den Bürgern Darmstadts der Wegzug der Juden nicht schnell genug ging und weil zumindest einige Juden beschlossen hatten trotz allem zu bleiben, forderte der Stadtrat den Landgrafen auf, dass er endlich handeln solle und die Juden „abschaffen„.

Dann aber geschah etwas Ungewöhnliches: die Juden wehrten sich nicht nur, sie hatten sogar Erfolg damit. Sie klagten vor dem kaiserlichen Reichskammergericht und das entschied in ihrem Sinne. Der Landgraf tobte und nannte den 1. August 1627 als Frist für den Abzug. Nach diesem Datum sollte sich kein Jude mehr in Darmstadt blicken lassen. Doch er hatte ein Problem: er konnte die Entscheidung des kaiserlichen Reichskammergerichts nicht einfach ignorieren, denn im Streit mit seinem Kasseler Vetter um das Marburger Erbe (die ehemalige Landgrafschaft Hessen-Marburg) war er auf die Unterstützung des Kaisers angewiesen. Man war kurz davor, den Streit zugunsten des Darmstädter Landgrafen zu beenden. Das konnte er jetzt nicht mehr riskieren, indem er sich über die Entscheidung des höchsten kaiserlichen Gerichts hinweg setzte, und so versuchte er nie, seine Anordnungen gegenüber den Juden mit Gewalt durchzusetzen.

Allerdings machte er – ähnlich wie sein Urgroßvater Philipp – ihnen mit immer neuen Verordnungen das Leben schwer. Hinzu kam der Krieg und die Pest, die allein 1635 beinahe die Hälfte der Darmstädter Bevölkerung auslöschte, so dass in dieser Zeit vermutlich nur ein einziger Jude namens Lew bzw. Löw in Darmstadt überlebte.

Manasse

Noch vor Ende des Krieges entspannte sich die Lage in der Stadt etwas. Die Entvölkerung hatte für die Überlebenden auch etwas Positives: die Chancen zum sozialen Aufstieg waren so gut wie nie. Wichtige Ämter waren vakant, weil die Amtsträger gestorben waren, Gewerbe, das seit Jahrzehnten fest von einer Familie bestimmt wurde, war leichter zu betreiben, weil diese Familie nicht mehr existierte, Häuser und ganze Dörfer standen leer, Land und Grundbesitz so leicht zu erwerben wie selten. Und weil in dieser Zeit wirklich jeder gebraucht wurde, konnten nicht nur Christen, sondern auch Juden den sozialen Aufstieg schaffen.

So wurde Manasse, der erste Jude in Darmstadt, den wir heute noch zumindest ansatzweise auch als Persönlichkeit erfassen können, in den 1640er-Jahren wohlhabend und einflussreich. Er hatte Grundbesitz direkt am Marktplatz, der besten Wohngegend damals, und war einer der reichsten Einwohner der Stadt, konnte sich die Anmietung des Schultheißenbaus als Lager leisten. Da er auch als Überbringer amtlicher Dokumente fungierte, hatte er zudem jede Menge Sonderrechte. So wurden für ihn beispielsweise auch sonntags die Stadttore geöffnet, obwohl es Juden eigentlich strikt verboten war, an einem Sonntag die Stadt zu verlassen.

Ein kleiner Zwischenfall Ende 1646 zeigt, wie hoch sein Ansehen gewesen sein muss: als nach dem Markt in Groß-Gerau die Darmstädter Bürger wieder zurück in die Stadt wollten, wurde ihnen der Einlass verwehrt, weil Manasse nicht dabei war. Die Bürger waren von seiner besonderen Stellung natürlich wenig begeistert und die Tatsache, dass er Jude war, war immer wieder Anlass für diskriminierende Anfeindungen, Beschimpfungen und Versuchen ihn aus der Stadt zu vertreiben.

Eine Zeitlang schützte der Landgraf Manasse vor den Anfeindungen der Bürger, weil er auch für ihn selbst eine nicht unerhebliche Geldquelle war. 1662 aber wurde es Manasse schließlich zuviel und er ging nach Frankfurt, wo er als Manasse Darmstädter Stifter der Klause, dem religiösen Lehrhaus der Juden, wurde und 1684 hochgeachtet starb. Der Stadt, die 1661 als eine ihrer ersten Forderungen gegenüber dem neuen Landgrafen Ludwig VI. massiv zu Manasses Ausweisung gedrängt hatte, ging damit einer ihrer wichtigsten Steuerzahler verloren. Vermutlich war man auf diese Dummheit auch noch stolz.

Es scheint, als hätten sich die antisemitischen Tendenzen der Bürger größtenteils an Manasse entladen, zumindest lebten mittlerweile wieder fünf jüdische Familien in Darmstadt, die bis zu Manasses Wegzug nach Frankfurt von Anfeindungen größtenteils verschont blieben. Erst nach seinem Weggang häuften sich die Beschwerden der Bürger über andere Juden. Das kann man wohl als Beleg werten, dass die Streitigkeiten nicht an der Persönlichkeit Manasses gelegen haben, der – glaubt man den Aussagen der Bürger – sich häufig sehr selbstgefällig und arrogant verhalten haben soll.

Tatsächlich hatten die Darmstädter kaum, dass sie Manasse loswaren, ein neues Opfer ausgemacht: David. Auch dieser war wohlhabend, teilweise, weil er es verstand, die Lücke, die Manasse hinterlassen hatte, auszufüllen. Er konnte das Todenwarthsche Gartenhaus, das heutige achteckige Haus (wo der Jazzclub untergebracht ist), damals eines der besten Häuser der Stadt, erwerben und betrieb von dort aus seinen Warenhandel.

Erfolgreiche Integration

Den Bürgern war Davids Anwesenheit suspekt. Es erinnert fast schon ein wenig an die Nazi-Zeit, wenn man ihm vorwarf, er gewähre in seinem Haus „anderen verdächtigen Juden“ Unterschlupf. 1677 forderte der Stadtrat den Landgrafen daher auf, David aus der Stadt aufs Land zu vertreiben. Ludwig VI. hatte jedoch keine solch ausgesprochen antisemitischen Neigungen wie sein Vater und weil David mit seinen jährlichen Schutzgeldzahlungen eine wichtige Einnahmequelle war, konnte er nicht nur in Darmstadt bleiben, sondern gründete, da seine Söhne sich ebenfalls in der Stadt etablieren konnten, sogar so etwas wie eine Familiendynastie.

Trotzdem blieb die jüdische Gemeinde in Darmstadt sehr klein. Einen eigenen Rabbiner bekamen sie erst 1709, was bedeuten dürfte, dass es in Darmstadt vorher – zumindest dauerhaft – nicht die Mindestzahl von zehn erwachsenen Männern gegeben hatte, die nötig waren, um einen vollständigen jüdischen Gottesdienst abzuhalten. Bereits 1680 hatte Landgräfin Elisabeth Dorothea den jüdischen Friedhof in Bessungen anlegen lassen, dessen konkrete Nutzung jedoch erst ab 1707 belegt ist. Das lag zwar nach wie vor außerhalb Darmstadts, doch vorher mussten die Darmstädter Juden noch in Alsbach bestattet werden, so dass diese Annäherungen durchaus als Zeichen gewertet werden kann, dass man am Hof mittlerweile davon ausging, dass Juden dauerhaft in Darmstadt leben werden. Die Bürger der Stadt wehrten sich mit Händen und Füßen gegen diese Entwicklung, doch der Schutz des landgräflichen Hofs ließ die jüdische Gemeinde in Darmstadt von nun an stetig wachsen.

Der nächste Landgraf Ernst Ludwig war den Juden wohlgesonnen und versuchte sie gänzlich zu integrieren. 1737 durfte die erste Synagoge eingerichtet werden und langsam konnten sie auch in Berufen Fuß fassen, in denen sie es bislang schwer hatten. Bürgerrechte konnten sie zwar noch nicht erwerben, doch dass ihnen eigentlich verboten war Grundbesitz zu erwerben, war in der Realität längst nicht mehr der Fall, was zeigt, dass die alten, diskriminierenden „Judenordnungen“ ihre Wirkkraft verloren hatten.

Ebenfalls ein Indiz für eine erfolgreiche Integration ist die Vielfältigkeit der jüdischen Charaktere. Sie sind keine Klischees, die als Geldverleiher und Handelsreisende am Rande der bürgerlichen Gesellschaft ein trauriges Dasein fristen. Ein besonders interessanter Charakter ist der aus Eberstadt stammende Schutzjude Samson Simon, der ab 1766 in den Quellen auftaucht. Er ist hochverschuldet, also eigentlich das genaue Gegenteil des antisemitischen Klischees vom Zinswucherer, und versucht sich aus dieser prekären Lage mit einer kleinen Theaterinszenierung zu befreien. Zusammen mit dem Leibarzt des Erbprinzen (der spätere Landgraf Ludwig IX.) machte er sich die Geistergläubigkeit des Prinzen zunutze und inszenierte angebliche Begegnungen mit Geistern im Darmstädter Schloss.

Neben Simons erfrischendem Sinn für Humor, der unter anderem darin zum Ausdruck kam, dass er einen der Geister sagen ließ, der Prinz dürfte niemals alleine aufs Klo gehen, zeigt sich an diesem Beispiel auch, dass es immer weniger Diskriminierung gab. Als die Sache nämlich aufflog, wurden Simon und sein Komplize, der angesehene Dr. Held, nicht sonderlich anders behandelt. Held verlor seine Anstellung als Leibarzt des Prinzen, wurde ansonsten aber nicht behelligt. Simon hatte man während des Verhörs zwar acht Stockhiebe verpasst, um ihn zum Geständnis zu zwingen, sah aber sonst keine Veranlassung für eine weitere Bestrafung. Er führte später in Eberstadt eine Herberge und dürfte dort die Geschichte, wie er den Landgrafen und einige der angesehensten Persönlichkeiten der Oberschicht an der Nase herumgeführt hat, immer wieder erzählt haben.

Schwelender Antisemitismus

Diese Entspannung im Zusammenleben zwischen Christen und Juden darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die alten Ressentiments nach wie vor unter der Oberfläche brodelten. Friedrich Karl von Moser, der unter Ludwig IX. als Kanzler zeitweise solch eine bedeutende Stellung erreichte, dass man ihn im Volksmund Vize-Landgraf nannte, bezeichnete die Juden als Blutegel, die man von den Staatsfinanzen „losmachen“ müsste. Wie man an diesem Beispiel sieht, waren antisemitische Klischees und Vorurteile in allen Bevölkerungsschichten nach wie vor verbreitet.

Gleichzeitig setzte sich aber auch die Aufklärung mehr und mehr durch. 1796 erhielt der Uhrmacher Abraham Linz als erster Jude das Darmstädter Bürgerrecht. Doch vielen Bürgern war diese immer weiter fortschreitende Gleichstellung ein Dorn im Auge. Bereits 1819 entlud sich das während der sogenannten Hep-Hep-Unruhen. Es kam zu Tumulten, gewaltsamen Ausschreitungen und Sachbeschädigungen. Hauptsächlich in der Kleinen und Großen Ochsengasse in der Altstadt wurden bei jüdischen Wohn- und Geschäftshäusern die Scheiben eingeworfen. Der staatliche Schutz, den die mittlerweile mehr als 500 Darmstädter Juden (ca. 2,5% der Gesamtbevölkerung) genossen, verhinderte Schlimmeres, aber es war offensichtlich, dass der weit verbreitete Antisemitismus jederzeit in Gewalt umschlagen konnte.

Mitentwickler des Stadtbilds

Es ist bezeichnend für das 19. Jahrhundert, in dem alle Werte in Frage standen, dass es nicht zwangsläufig dieser staatliche Schutz war, der die antisemitischen Tendenzen im Zaum hielt. Gerade die Märzrevolution, während dessen die großherzögliche Macht auf einem Tiefpunkt war, sorgte dafür, dass auch die letzten Diskriminierungen beseitigt wurden. Von nun an konnten Juden auch politisch Karriere machen und schon bald saßen mehrere von ihnen im Stadtrat. Einer von ihnen, der Fabrikant Heinrich Blumenthal, war so einflussreich, dass er den Großherzog dazu brachte, ihm die Planung eines neuen Stadtviertels zu überlassen, zum ersten Mal in der Geschichte Darmstadts wurde die Stadtplanung damit in private Hände gelegt.

Das Viertel, das nach Blumenthals Planung entstand, wurde dann sogar Blumenthal-Viertel genannt. Nachdem dort 1893/94 die Johanneskirche errichtet wurde, ging man dazu über, es Johannesviertel zu nennen. An Blumenthal erinnerte allerdings noch die Blumenthalstraße, die erst in der Nazi-Zeit in Taunusring umbenannt wurde. Nach dem Krieg hatte man leider nicht den Anstand, den alten Namen wieder einzuführen und so heißt die Straße heute Kasinostraße.

Zwei neue Synagogen entstanden in den 1870er Jahren. Das war nicht nur Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins der Juden, sondern auch die in Stein gefasste Spaltung der jüdischen Gemeinde. Denn die 1873 in der Ochsengasse in der Altstadt errichtete Synagoge wurde hauptsächlich von orthodoxen und armen Juden, die erst kürzlich vom Land in die Stadt gezogen waren, aufgesucht, während die 1876 fertiggestellte Liberale Synagoge in der Friedrichstraße eher das Gotteshaus der liberalen, mittlerweile in die bürgerliche Gesellschaft voll integrierten, meist wohlhabenderen Juden war.

Antisemitismus wird mehrheitsfähig

Etwa ab 1890 wurden die antisemitischen Kräfte stärker. Die in Darmstadt gedruckte Neue Hessische Volkszeitung verbreitete Hetzparolen und schürte den Judenhass. Bei Wahlen bekamen antisemitische Kandidaten immer mehr Stimmen und – um ihren Bedeutungsverlust besorgt – näherten sich die bürgerlichen Kandidaten ihnen an.

Nach dem verlorenen Weltkrieg wurde es noch schlimmer. Die Juden wurden zum Sündenbock gemacht. Seit 1929 erschien die in Darmstadt gedruckte Hetzzeitung Hessenhammer. Schon der Titel, eine Anspielung auf den spätmittelalterlichen Hexenhammer, deutete das an, was man dann in der Zeitung unverhohlen lesen konnte: der Aufruf zu Pogromen. Die SPD-geführte Landesregierung versuchte gegen diese radikalen Strömungen vorzugehen, doch konnte nicht mehr verhindern, was nun kam. 1933 stimmte beinahe exakt die Hälfte der Darmstädter für die NSDAP. Erstmals seit der Regierungszeit Georgs II. wurde die Vertreibung der Juden wieder Staatsräson.

Staatsterror

Umgehend wurden alle Juden aus dem öffentlichen Dienst, aus sämtlichen Ämtern, aus Vereinen und aus Schulen, einschließlich der TH entfernt. Ärzte und Anwälte konnten ihren Beruf faktisch nicht mehr ausüben. Ein steter Fluss jüdischer Auswanderer begann, der sich nach der Verkündung der Nürnberger Gesetze noch verstärkte. Darmstadt galt bald als Vorzeigestadt für die von den Nazis „Arisierung“ genannte Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung.

In der Reichspogromnacht brannten die beiden Synagogen in der Bleichstraße und in der Friedrichstraße nieder. Jüdische Häuser und Geschäfte wurden von Schlägertrupps gestürmt, geplündert und zerstört. Es kam zu Misshandlungen und Todesfällen. Die Rechte der in Darmstadt verbliebenen Juden wurden weiter eingeschränkt und – erstmals in der Geschichte der Stadt – wurden sie in eigens als „Judenhäuser“ bezeichneten, heruntergekommenen Quartieren eingepfercht. Weitere flohen aus dem Land, sofern sie konnten. Ab 1942 begannen in Darmstadt die planmäßigen Deportationen in Vernichtungslager (Verschleppungen in KZs gab es aber bereits vorher). Bis zum Ende der Nazi-Herrschaft wurden mindestens 600 Darmstädter Juden ermordet, mehr als ein Drittel der Gemeinde, der Rest floh oder wurde verschleppt.

Langsame Erholung

Nur sehr langsam kehrte nach dem Krieg das jüdische Leben nach Darmstadt zurück. Noch 1967 lebten gerade einmal 70 Juden wieder in Darmstadt. Das war ein Bevölkerungsanteil von gerade einmal 0,05%, in der Weimarer Republik waren es 2 bis 3% gewesen. Auch danach war das Wachstum der jüdischen Gemeinde in Darmstadt gering. 1988 hat die jüdische Gemeinde wieder 116 Mitglieder, angesichts des allgemeinen Bevölkerungswachstum ist das aber nur ein sehr geringfügier Anstieg auf nicht einmal 0,1%. Ein Niveau, das schon im 16. Jahrhundert übertroffen wurde.

Im selben Jahr wird die Neue Synagoge der liberalen Gemeinde in der Wilhelm-Glässing-Straße eingeweiht. Der Bau ist zeitgemäß und schlicht gehalten, unauffällig und etwas langweilig. Fast hat man den Eindruck, man wollte damit niemanden provozieren, kein Vergleich mit der großartigen Architektur der alten, 1938 niedergebrannten Synagoge. 2011 schließlich wird mit dem Julius-Landsberger-Platz erstmals ein Platz nach einem Rabbiner der Liberalen Gemeinde in Darmstadt benannt, ein deutlicher Ausdruck einer langsam wieder wachsenden Bedeutung der jüdischen Gemeinde, die heute etwa 700 Mitglieder (knapp 0,5% der Einwohner) hat, dennoch kann man auch mehr als 65 Jahre nach Ende des Krieges nicht davon sprechen, dass sich das jüdische Leben in Darmstadt erholt hätte. Die Folgen des Nazi-Terrors sind immer noch offensichtlich.

4 Responses to Geschichte der Juden in Darmstadt

  1. Marc says:

    Warum haben die eigentlich die zerstörte Liberale Synagoge nach dem Krieg einfach so überbaut? Und dabei offenbar so vergessen, dass der Grundmauernfund 60 Jahre später so eine Überraschung war.

    • Gute Frage, vielleicht weil man nicht dran erinnert werden wollte, dass man das Ding niedergebrannt hat? Die Entlassung von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern aus der Stadtverwaltung hatte Ludwig Metzger nach dem Krieg ja bis auf wenige Ausnahmen verhindern können. Die wollten sicher nicht an ihre Verstrickungen erinnert werden (die ehemaligen Nazi-Beamten meine ich, nicht Metzger). Ich denke mal, nach dem Krieg wurde so was gar nicht öffentlich debattiert, da wurde gebaut, wo Platz war und da war Platz. Wer hätte sich großartig dagegen wehren sollen? Der einzige Jude mit halbwegs Einfluss in der Zeit dürfte Artur Bratu gewesen sein. Und – ohne zu wissen, was seine Haltung dazu gewesen ist – allein hatte der sicher wenig ausrichten können.

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