Die Pankratius-Vorstadt

Neulich war ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass in meinem Überblick über die Stadtentwicklung bis 1900 die Ausführungen über die damals sogenannte Pankratius-Vorstadt (gelegentlich auch Bangertsviertel genannt), aus der sich das heutige Martinsviertel entwickelte, etwas unpräzise wären. Die Frage, die vor allem „Watzeverdler“ interessieren dürfte, ist, wann genau dieses Viertel denn nun entstanden ist.

Das Problem ist, dass man das so genau einfach nicht sagen kann. Das Viertel war nicht geplant angelegt worden, sondern entstand in wilder Bebauung. Von Seiten der Obrigkeit wollte man die Entwicklung des Viertels sogar verhindern. 1791 wurde eine Bausperre für Grundstücke außerhalb der Stadt verhängt, womit konkret die Pankratius-Vorstadt gemeint war. Da das Viertel nie geplant war, ist die Frage, ab wann es entstand, eher eine Definitionssache als eine historische Fragestellung. Ab wann ist eine Ansammlung von Häusern ein eigenes Viertel?

Ursprünglich bestand die Gegend hauptsächlich aus Äckern und Gärten. Auch der heutige Herrngarten war Teil dieses Geländes und wenn man weiß, dass er ursprünglich aus mehreren Hundert (!) bürgerlichen Gärten bestand, kann man sich vorstellen, wie kleinparzellig diese Gärten verpachtet waren. Infolge des 30-jährigen Krieges konnten reichere Bürger (und auch der Landgraf) viele dieser Gärten erwerben und zu größeren Grundstücken zusammenfassen. Nach dem Krieg bestand die Fläche aber immer noch aus etwa ein Dutzend Einzelgärten.

Eine ähnliche Entwicklung müssen wir für die Gärten und Äcker auf dem Gebiet des heutigen Martinsviertels annehmen. Und wo immer die Fläche groß genug war, um ein Haus drauf zu stellen, war dies theoretisch möglich.

Eines der ersten Gebäude in dieser Gegend, das wir – wenn auch nur indirekt – nachweisen können, ist das Gutmannhaus bzw. Gutleuthaus. Dieses lässt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Als Gutleuthäuser bezeichnete man außerhalb von Ortschaften gelegene Bauten, in denen Leprakranke untergebracht waren. Der genaue Standort dieses Hauses ist nicht ganz klar, möglicherweise stand es im Bereich der heutigen Heinheimer Straße.

Gesichert ist dagegen der Standort eines vielleicht 1627, spätestens aber in den 1630ern erbauten Hauses, denn es steht heute immer noch. Es handelt sich um das Achteckige Haus in der Mauerstraße, in der sich heute der Jazzclub befindet. Dieses Haus hatte aber noch nichts mit dem Arme-Leute-Quartier der Pankratius-Vorstadt zu tun. Im Gegenteil, es war eines der teuersten Häuser Darmstadts und stand damals inmitten eines großen Obstgarten, der einen Großteil der heute benachbarten Gebäude mit beinhaltete.

Etwa hundert Jahre später gab Landgraf Ernst Ludwig den Bau „der Magazinscheuer und der großen Heuwaage vor dem Sporertor“ in Auftrag. Beides befand sich an der Pankratiusstraße. Wohngebäude kann es da aber nach wie vor nur sehr wenige gegeben haben.

Erstes konkretes Zeugnis der Pankratius-Vorstadt findet sich daher erst auf dem Prospekt des Architekten Johann Jakob Hill, ein Kupferstich, der Darmstadt und das Umland einschließlich Bessungen in bis dahin ungekannter Genauigkeit darstellte. Er stammt aus dem Jahr 1775. Man kann darauf erkennen, dass sich die Bebauung tatsächlich hauptsächlich entlang der Pankratiusstraße gebildet hatte, nicht entlang der Arheilger Straße, wie man vielleicht intuitiv eher erwarten würde. Etwa 10 Häuser sind zu erkennen. Entlang der Arheilger Straße stehen noch nicht mal 5 Häuser. Ansonsten gibt es nur die in erster Linie landgräflich geplante Bebauung vor dem Sporertor, also am heutigen Kantplatz, und einige wenige vereinzelte Häuser an der heutigen Schlossgartenstraße.

In einem Reisebericht von Joachim Heinrich Campe aus dem Jahr 1785 erwähnt dieser auch die Pankratius-Vorstadt:

Die Ackerbewohner bewohnen eine eigne Straße, die als ein besondrer Ort angesehen wird, auch seine eigne Jurisdiktion hat.

Abgesehen davon, dass der Nebensatz am Ende darauf hindeutet, dass man die Pankratius-Vorstadt damals noch nicht als Teil Darmstadts sah, geht daraus hervor, dass auch 10 Jahre nach Hills Prospekt die Pankratius-Vorstadt nach wie vor hauptsächlich aus nur einem Straßenzug bestand, der Pankratiusstraße.

Danach aber explodierte das Wachstum. Das nächste gesicherte Dokument ist der Stadtplan von Carl Wilhelm Leske aus dem Jahr 1822. Im Dreieck Pankratius-, Arheilger- und Schlossgartenstraße existierten da wohl bereits knapp 100 Häuser. In der Ecke Dieburger-/Heinheimer Straße stehen zwischenzeitlich etwa ein Dutzend Häuser. Auch in der Kranichsteiner Straße stehen jetzt erste Gebäude. Diese Straßenzüge zusammen mit der heutigen Lauteschlägerstraße werden danach in Rekordgeschwindigkeit vollständig bebaut. Der Rest des heutigen Martinsviertels bleibt aber noch lange größtenteils leer. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Martinsviertel schließlich größtenteils vollständig bebaut.

10 Responses to Die Pankratius-Vorstadt

  1. Also wenn ich den Johann-Jakob-Hill-Stich:

    mit dem (zugegeben viel jüngeren) Stadtplan vergleiche:

    dann stelle ich fest, dass das, was da so dicht bebaut ist, die „Große Arheilger Straße“ ist, die wohl hinreichend deckungsgleich mit der heutigen Magdalenenstraße sein dürfte.
    Oder gehörte das zum damaligen Darmstadt noch dazu?

    • Das, was da als Große Arheilger Straße bezeichnet ist, ist in der Tat die heutige Magdalenenstraße. Die war aber Teil der Alten Vorstadt, die bereits Georg I. geplant und teilweise auch gebaut hat. Die Alte Vorstadt war mit einer eigenen Mauer umgeben, woher die Mauerstraße ihren Namen hat. Außerdem gab es zwei Tore, das Jägertor in der Alexanderstraße kurz vor der Mauerstraße und das Sporertor am Ausgang der Magdalenenstraße, also kurz vorm Kantplatz. Die Pankratius-Vorstadt war damals aber aus vielen Gründen davon zu unterscheiden, die Alte Vorstadt war deutlich älter und geplant gewesen, die Häuser waren einheitlich und ein Quartier hoher Beamter. Die Pankratius-Vorstadt war außerhalb der Mauern, ungeplant und ein Arme-Leute-Quartier. Und man zählte es offenbar noch das ganze 18. Jahrhundert nicht zur eigentlichen Stadt.

      Das Wikipedia-Bild zeigt nur einen Ausschnitt von Hills Prospekt. Nimm das hier von der TU und zoom rein: http://tukart.ulb.tu-darmstadt.de/1038/1/index.htm

      Die Pankratiusstraße erkennt man an dem Bogen, den sie macht. Im Vergleich zur Magdalenenstraße lässt sich erahnen, dass der Ursprung der Pankratius-Häuser wohl in ehemaligen Gärten und Äckern zu suchen ist.

  2. Die ganz und gar freie Verfügbarkeit so eines lange aus dem Schutz des Urheberrechts entwachsenen Dokuments scheint nicht in Öffentlichem Interesse zu liegen…

    Danke!

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